Die Waldzeitungen
Es war einmal ein sehr großer Wald, in dem sehr viele Tiere lebten. Viele von ihnen kannten sich, viele aber auch nicht, denn wie gesagt, der Wald war so groß, daß die meisten Tiere nur einen ganz kleinen Teil davon kannten. Aber die Tiere waren sehr neugierig, und immer wenn sie einem anderen begegneten, fragten sie nach dem Woher und dem Wohin und wie es denn woanders aussehe.
Einige Tiere gaben sich damit nicht zufrieden. Da gab es zum Beispiel einen schlauen Fuchs, der jedes Jahr Wochen damit zubrachte, durch den Wald zu traben und sich alles zu merken, was er sah, besonders die schönen Stellen. Weil er aber gerne darüber erzählte und zu selten andere Tiere traf, mit denen er reden konnte, hatte er eine Idee! Er dachte sie von vorne bis hinten durch und dann noch einmal von hinten bis vorne … und dann stand sein Entschluss fest: Er würde eine Zeitung herausgeben, in der er die schönsten Fleckchen im Wald beschreiben konnte. Gesagt getan, er brachte seine Zeitung heraus und alle Tiere waren begeistert. Schon bald erschien die Zeitung regelmäßig und wurde sehr bekannt.
Eines Tages begegnete dem Fuchs ein Eichhörnchen. Es war mit dem Nüssesammeln für den Winter fertig und streifte wie der Fuchs durch den Wald.
„Hi, Gevatter Fuchs, was macht die Zeitung?“
„Läuft gut!“ Erwiderte der Fuchs freundlich.
„Ich habe jetzt auch eine angefangen, denn ich finde deine zwar gut, aber ich habe da noch ein paar Sachen, die ich auch erzählen könnte. Hast du was dagegen?“
„Ach was,“ sagte der Fuchs, „wir nehmen uns schon nichts weg!“
Und so gingen die Tage, Wochen und Monate ins Land. Einige andere Tiere hatten inzwischen auch ihre eigene Zeitung, z. B. der Igel, der immer sehr bodenständige Geschichten erzählte, oder die Waldmaus, deren Zeitung besonders niedlich war. Alle waren damit zufrieden. Der Fuchs, das Eichhörnchen und der Igel hatten inzwischen sogar eine Ratgeberseite in ihrer Zeitung, in der der Fuchs zum Beispiel auf die Frage nach besonders guten Hühnergerichten, das Eichhörnchen auf solche nach Rezepten für Nusstorten antwortete und der Igel am liebsten die besten Fundorte für Würmer und Pilze verriet.
Nur die Waldmaus hatte so eine Seite noch nicht, aber das war ja kein Problem.
Eines Tages trafen sich der Fuchs und das Eichhörnchen wieder einmal.
„Wie geht’s denn Gevatter?“
„Gut, danke, und selbst?“
In diesem Moment kam ein Specht den Stamm heruntergeklettert.
„He, ihr beiden, gut dass ich euch sehe. Wollte euch schon lange mal was fragen!“
„Und was?“ Fragten der Fuchs und das Eichhörnchen wie aus einem Munde.
„Es ist wegen eurer Zeitungen. Ich finde ja gut, dass es so viele verschiedene gibt, nur die Ratgeberseiten, das finde ich ziemlich nervig. Wenn ich mal was wissen will, muss ich immer gleich an mehrere Zeitungen schreiben!“
Der Fuchs dachte einen Moment nach. Dann drehte er sich zu dem Eichhörnchen um.
„Was meinst du, Gevatter, die Ratgeberseiten … warum machen wir nicht einfach eine gemeinsame zusammen? Jeder macht einfach seine eigene Zeitung weiter, aber nur eine gemeinsame Ratgeberseite … das wäre doch besser für alle unsere Leser!“
„Wow,“ rief der Specht, „das fände ich klasse. Und die meisten anderen Tiere auch. Beim Eichhorn lesen wir die besten Witzchen, beim Fuchs haben wir die schönsten Bilder und so, und wenn wir was wissen wollen, ist es dann egal, an wen wir schreiben. Klasse!“
Das Eichhörnchen grinste.
„Ja, eigentlich eine prima Idee von dir, Fuchs! Da mache ich mit!“
„Ich auch!“
Der Igel kam unter einem Busch hervor.
„Ich habe eben versehentlich zugehört. Kann ich auch mitmachen?“
„Klar!“
Wieder sagten es der Fuchs und das Eichhörnchen wie aus einem Mund.
„Dann setzen wir uns jetzt mal in Ruhe zusammen und überlegen, wie wir das am besten machen. Sowas geht ja nicht von heute auf morgen!“
„Und ich erzähle es den anderen,“ rief der Specht und flog davon. Während die drei da im Moos saßen und überlegten, eilte der Specht durch den ganzen Wald und verkündete die Botschaft, daß es bald nur noch eine Ratgeberseite in den drei Zeitungen geben würde. Das hörte die Waldmaus, die gerade dabei war, genüßlich eine große Brombeere zu verputzen.
„He, Specht,“ rief sie nach oben. „Wie war das eben?“
Der Specht flog zu ihr herunter und erzählte ihr alles.
„Ach“, meinte die Waldmaus, „da mache ich auch mit. Sag den anderen, ich habe gerade eine neue Ratgeberseite bei mir angefangen, und wenn sie Lust haben, stelle ich die für alle Zeitungen zur Verfügung. Wobei wir uns noch über die Modalitäten einigen müßten, versteht sich. Richte ihnen einen lieben Gruß von der Waldmaus aus!“
Der Specht tat, wie ihm geheißen. Als er den drei Freunden alles erzählte, auch den vorletzten Satz der Waldmaus, zog das Eichhörnchen die Augenbrauen hoch und fragte:
„Modalitäten? Was meint sie denn mit Modalitäten?“
„Weiß ich auch nicht,“ antwortete der Igel.
„Papperlapapp Modalitäten,“ rief der Fuchs. „Wir machen das jetzt so wie besprochen, auch wenn es noch ein paar Tage dauert. Und wenn die Waldmaus will, kann sie ja gerne bei uns mitmachen. War doch unsere Idee, oder nicht? Sollen wir die jetzt wieder umschmeißen?“
Die anderen waren der gleichen Meinung. Sie verabredeten, sich jeder noch bis zum nächsten Morgen zu überlegen, wie man das Ganze denn am bequemsten für die Leser machen könne.
Als der Tag graute, erwachte auch das Eichhörnchen auf seinem Baum. Nachdem es ein paar Nüsse gefrühstückt hatte, stieg es hinunter und stolperte über eine Zeitung, die vor dem Baum lag. Das war ungewöhnlich. Es schaute sich um und entdeckte, daß überall im Wald solche Zeitungen lagen. Neugierig öffnete es eine und schaute überrascht auf die riesige Schlagzeile:
„Endlich, die Waldmaus macht es möglich! Die ultimative Ratgeberseite. So etwas war noch nie da! Vergeßt alles andere, hier seid ihr richtig.“
Das Eichhorn schloss kurz die Augen, weil es das nicht glauben wollte. Aber als es sie wieder aufmachte, war die Schlagzeile immer noch da! In diesem Moment kam auch der Igel des Weges, ebenfalls eine Zeitung in der Hand.
„Hast du das gelesen?“ Er schüttelte den Kopf.
„Ich verstehe das auch nicht. Gestern wollte sie noch bei uns mitmachen. Und heute sowas. Hätten bloß der Specht und wir das Maul gehalten!“ Das Eichhörnchen war immer noch verwirrt, aber doch schon ein bisschen böse. Der Igel fuhr fort:
„Ich verstehe nicht was das soll! Sollen wir jetzt zur Waldmaus laufen und fragen, ob wir bei IHR mitmachen dürfen, oder wie stellt sie sich das vor? Dabei habe ich vorhin den Fuchs getroffen, er hat alles wie besprochen in die Wege geleitet, unsere gemeinsame Ratgeberseite ist fertig!“
„Na also, wir hatten die Idee und wir sind drei. Und außerdem sind wir alle viel größer als sie. Jetzt soll sie kommen, wenn sie was will! Und wenn sie kommt, habe ich auch nichts dagegen!“
Aber die Maus dachte gar nicht daran. Sie tat hingegen so, als ob sie die anderen nicht mehr kennen würde und wenn sie einer fragte, was sie denn von den Zeitungen von Fuchs, Eichhorn oder Igel hielte, sagte sie nur schnippisch: „Welche Zeitungen? Ich kenne alle guten Zeitungen, aber die kenne ich nicht!“
Die drei anderen fanden das nur noch albern. Vor allen Dingen, weil die Maus ganz vergessen hatte, konsequenterweise auch aus der „Vereinigung der Waldzeitungsverleger“ auszutreten, in der die anderen auch drin waren. Und da war es schon komisch, daß sie plötzlich die anderen Zeitungen nicht mehr kennen wollte.
Und so kam es, daß es weiterhin zwei Ratgeberseiten im Wald gab. Aber an die Maus schrieb kaum einer, außer der dicken Nacktschnecke, die der Maus unauffällig eine Werbung für ihr eigenes Blättchen unterjubelte. Aber das hatte nur mit anderen nackten Schnecken zu tun und interessierte keinen im Wald so richtig …
Sollte jetzt jemand eine Moral in dieser Geschichte vermuten – nicht jede Fabel muss eine Moral haben!
Und sollte hier jemand eine Parallele zu real existierenden Internet-Foren vermuten, so irrt er natürlich … (geschrieben im Jahre 2000).