Kurz vor Axós passierten wir einen Köhlerbetrieb, wo sich uns in der Abenddämmerung ein fast unwirkliches Bild bot: zwei Köhler standen auf Schaufeln gestützt auf ihren Meilern, unmittelbar neben einer jeweils aus der Mitte lodernden Flamme – ein Bild wie aus einer anderen Zeit.
Zurück im Hotel bereiteten wir uns in der Bar zunächst auf einer Art Campinggas-Brenner einen griechischen Kaffee, bevor wir das Thema Abendessen angingen. Inzwischen waren John und Fani Papadakis, die Inhaber des Hotels, angekommen, die jedes Wochenende im Enagron verbringen und die ganze Anlage wohl einmal mit einem Haus für den eigenen Bedarf begonnen haben. Wir wurden gefragt, ob sie den Koch rufen sollten – wir waren nämlich immer noch die einzigen Gäste. Wir zogen es aber vor, mit etwas mehr Leben um uns in Anógia zu essen und ließen uns dazu von John und Fani sowie einem Freund der beiden, der mit ihnen auf der Terrasse saß und von dem wir später erfuhren, dass er der Bruder von Loudovikos war, ein paar Tipps geben. Dann fuhren wir nach Anógia.
Da ich die Ortsdurchfahrt im Unterdorf relativ eng in Erinnerung hatte, stellten wir unser Auto kurz vor dem Ort ab. Im Ort war dann auch tatsächlich das totale Auto-Knäuel, da keiner dem anderen nachgeben und zurücksetzen wollte. Ein paar Meter weiter sahen wir in einer Seitenstraße eine große Menschentraube – aus einem Lieferwagen wurden von einem großen Stapel ganze Lämmer und Ziegen verkauft.
Die erste uns empfohlene Taverne war recht groß, schien aber dennoch sehr voll, so dass wir weiter Richtung Oberdorf gingen. Die dortige Tavernen-Empfehlung war noch völlig leer – auch nicht gerade vertrauenerweckend. Am Dorfplatz begann gerade eine Parteikundgebung im Zusammenhang mit bevorstehenden Wahlen. Fast das ganze Dorf schien hier versammelt zu sein.
Da die Taverne immer noch leer war, gingen wir wieder ins Unterdorf zurück und fragten an der ersten Taverne, ob ein Tisch frei sei. Ein perfekt deutsch sprechender Kreter lud uns daraufhin ein, Platz zu nehmen. Dies sei die Taufe seiner Tochter und wir sollten doch am Essen teilnehmen. Ehe wir uns versahen, saßen wir mit einigen jungen Leuten am Tisch. Während Christa eigentlich sofort wieder gehen wollte, weil sie glaubte, aufgrund des Massakers der deutschen Wehrmacht eine solche Einladung in Anógia nicht annehmen zu können, glaubte ich, aus genau dem gleichen Grund die kretische Gastfreundschaft nicht ablehnen zu dürfen. Schließlich blieben wir und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Die Vorspeisen waren offensichtlich schon durch, denn als nächstes wurden Teller, Gabeln und dann Schüsseln mit Reis gebracht. Schließlich kamen Platten mit gegrilltem Lamm dazu. War nur die Frage, wie man das mit der Gabel essen sollte. Ich spekulierte: entweder hat jeder Kreter ohnehin sein Messer dabei, oder Messer werden aus „Sicherheitsgründen“ nicht ausgeteilt!
Aber das ganze war gar nicht so kompliziert: die Gabeln waren für den Risotto-ähnlichen in Lammbrühe gekochten, fantastisch schmeckenden Reis gedacht und die Fleischstücke aß man wie bei uns Hähnchen. Inzwischen hatte man uns, wie allen anderen auch, kleine weiße Schleifen zum Anstecken gegeben. Außerdem erhielten alle Gäste als Geschenk eine kleine Ikone mit einem Säckchen voll weißer Bonbons.
Unsere oben erwähnte Diskussion ging aber weiter, so dass wir uns nach diesem Gang bei dem Vater des Täuflings bedankten und das Weite suchten. Zuvor durften wir uns noch die Geschenke für die Taufpaten ansehen – für jeden eine große, geschmückte Ikone.
Da wir nicht annähernd satt waren und inzwischen auch ziemlich gestresst, machten wir noch einen Versuch im Oberdorf. In der Taverne war inzwischen ein Tisch besetzt, es wurde aber noch nicht gegessen. Als wir nach dem Essen fragten, verschwand die Inhaberin und kam mit einem Topf zurück, den sie zu den beiden anderen schon vorhanden in die Küche brachte. Leider überzeugte uns keines der drei Gerichte, die sie uns anbot, und mehr umfasste ihr Angebot an diesem Abend auch nicht. Obwohl es mir total peinlich war, bedankten wir uns herzlich und suchten nun auch hier das Weite.
Also wieder ins untere Dorf zurück, wobei ich bemerken möchte, dass zwischen den beiden Dorfteilen ein unbeleuchtetes Straßenstück von ca. 500 Metern Länge liegt und die beiden Tavernen fast einen Kilometer voneinander entfernt sind. Das war alles nicht sonderlich spaßig, zumal Christa bisher kaum etwas gegessen hatte und total groggy war.
Uns fiel aber ein, dass sich in der Nähe der ersten Taverne noch eine weitere kleinere befand, wo am Vorabend bei unserer Ankunft Gäste im Freien gesessen hatten. Das war auch heute wieder so und so steuerten wir auf diese Taverne zu. Wir wurden freundlich begrüßt und eingeladen, uns zu setzen. Gerade rechtzeitig erkannten wir aber noch, dass diese Taverne eigentlich zwei waren, von denen diejenige, in die wir nun geraten waren, völlig leer war. Wir bogen noch rechtzeitig zu der anderen ab, wo auch der eine besetzte Tisch stand. An einem offenen Grill wurde eine Lammseite gebraten und in der Taverne selbst war noch ein Tisch mit alten Männern besetzt.
Das Speisenangebot bestand aus „Lamb, Potatoes and Greek Salad“. Wir bestellten und bekamen schließlich von jedem etwas. Abgesehen davon, dass die Kartoffeln lauwarm waren, war das Essen gar nicht schlecht und auch der Wein war OK.
Nach einiger Zeit fuhr ein Pick-up vor und der Fahrer ging mit einer großen Platte voller Fleisch in die Taverne. Er warf das gegrillte Fleisch auf den Tisch, an dem die alten Männer saßen. Offensichtlich handelte es sich hierbei um die übrig gebliebenen Platten von der Taufe, die jetzt quasi als Armenspeisung in den Tavernen und Kafenia verteilt wurden.
Inzwischen war uns eingefallen, dass wir auf der Rückfahrt von der Nida-Ebene am Ortseingang von Anógia noch eine weitere Taverne gesehen hatten, die mit Hinweisen wie „Deutsche Speisekarte“ für sich geworben hatte. Ich glaube, die hatten wir in der Folge verdrängt, weil wir ja eigentlich etwas Landestypisches suchten – was wir ja schließlich auch bekommen hatten, und das gleich mehrfach!
Dennoch fuhren wir nun wesentlich entspannter und immerhin gesättigt ins Enagron zurück. Den Rest des Abends verbrachten wir mit John und Fani sowie einem irischen Paar, das hierher geraten war, weil es das einzige freie Hotel in der Gegend war. Wir saßen in der Lounge am Kamin. Christa bekam ein Glas von Johns fantastischem kretischen Rotwein angeboten (den er sonst eigentlich nur selber trinkt) und Fani verwöhnte uns mit leckeren frischgebackenen Quarktaschen. Beim Thema „kretische Musik“ kam das Gespräch irgendwann auf Ross Daly und die Tatsache, das die beiden Iren einen gemeinsamen Freund mit diesem irischen Musiker haben.
John und Fani konnten ihnen Tipps geben, wo man Ross Daly auf Kreta finden kann.
Das Enagron ist eine Idee von John und Fani. Er ist Manager bei Coca Cola in Iraklion, und sie Architektin. Die beiden wohnen in Iraklion und haben mit dem Enagron eine kleine Ferienanlage nach ihren Vorstellungen realisiert. Das ganze hat den Charakter einer kleinen Farm mit Gästehäusern. Auf dem Gelände befindet sich noch ein alter Bauernhof mit Pferdekoppeln, Federvieh und anderem Getier, das Kinder bei einem Aufenthalt sicherlich faszinieren würde. Im Zentralbau befinden sich Rezeption und Lounge, eine Bar sowie ein rustikales Restaurant mit einer umlaufenden Galerie. Überall finden sich schöne alte kretische Möbel, Haushaltsgeräte, bäuerliche Erinnerungsstücke und auch Möbel aus der türkischen Besatzung im 18. und 19. Jahrhundert.
Daneben wunderbar dekorierte Accessoires und schwarz-weiß-Fotos, die die bäuerlichen Traditionen der Gegend in Erinnerung rufen. Nicht unerwähnt bleiben sollen die beiden Destilliergeräte zum Brennen von kretischem Tsikoudiá, dem dortigen Rakí, die im Hof stehen und in der Brennzeit sicherlich auch schon zu manchem gemütlichen Abend beigetragen haben.
Das Enagron ist zur Jahreswende 2001/2002 eröffnet worden und war dann vor allem im Winter 2002 gut besucht. Diese Gäste waren aber überwiegend die Freunde von John und Fani aus Iráklion. Nun musste man erst einmal Marketing und Vertrieb organisieren, um eine akzeptable Auslastung zu bekommen.
Die Gegend um Anógia hat im Winter Ihren Reiz durch das einzige kretische Skigebiet, das sich hier am Psilorítis befindet – inklusive Skilift!
Trotz eines kleinen Mäuschens, das sich unter unser Bett rettete und dort versteckt hielt, schliefen wir gut ein, wurden aber in der Nacht durch ein extremes Gewitter geweckt. Unaufhaltsam blitzte und krachte es und der Regen prasselte auf die Holzterrassen unserer Wohnung und klatschte gegen die Fensterläden. Am nächsten Morgen sahen wir dann die Bescherung: überall tiefe Pfützen und Furchen, die das abfließende Wasser in die Böschungen und Wege gegraben hatte.
Nach einem kräftigenden Frühstück packten wir unsere Sachen, um Richtung Plakiás aufzubrechen. Zuvor kam uns aber noch die Idee, dass Coca Cola in Iráklion vielleicht einmal eine gute Adresse für ein Praktikum unserer Tochter Caroline sein könnte. John war dem gegenüber nicht abgeneigt und so tauschten wir auch noch unsere Business Cards.
Dann fuhren wir auf der Old Road Richtung Réthymnon, vorbei an der Melidóni-Höhle, wieder bei extremem Regen. Ich glaube, ich habe noch nie solche Sturzbäche von allen Seiten zu einer Straße hin strömen sehen. Natürlich spülten die auch kleine Sand- und Geröllhalden auf die Straße, so dass man verdammt aufpassen musste. Da es in den Dörfern offensichtlich keine Regenwasserkanalisation gibt – warum auch bei den paar Wochen Regen im Jahr – strömte das Wasser jeweils die Hauptstraße entlang durch das ganze Dorf, um sich danach in die Wiesen und Felder zu ergießen.
Schließlich kamen wir auf der New Road an, bogen bei Réthymnon in Richtung Südküste ab und kamen am frühen Nachmittag wohlbehalten in Dámnoni an, wo wir von Despina in Empfang genommen wurden.
Jetzt konnte der ruhigere Teil des Urlaubs beginnen.
von Wolfgang George