Inzwischen war es schon fast Oktober und unsere letzte Woche war angebrochen. Ich rechnete allmählich mal unsere Finanzen durch. Dabei kam ich zu dem Ergebnis, dass wir eigentlich ganz gut im Soll lagen, was nach dieser langen Zeit erstaunlich war), einzig und allein die unvorgesehenen Arzneikosten wegen Yvonnes Abszess hatten eine heftige Bresche von etwa 120 DM in unsere Reisekasse geschlagen.
Also beschloss ich, am Tag vor der Abreise nach Iráklion zur IKA (staatliche Krankenkasse) zu fahren, weil ich hoffte, dass man mir dort bei Vorlage der Quittung und Yvonnes internationalen Krankenscheins das Geld erstatten würde.
Das Gebäude der IKA in der Odós Agíou Miná fand ich schnell, war aber schon ein wenig beeindruckt, als ich in der Empfangshalle die Schlangen vor den diversen Schaltern sah. Irgendwie fand ich heraus, wo ich mich anzustellen hatte und war nach geraumer Zeit auch dran. Erwartungsvoll schob ich die genannten Papiere über den Tresen. Der Mensch am Schalter schaute sie sich eine ganze Weile an und bedeutete mir dann, mit dem internationalen Krankenschein könne man hier nichts anfangen. Dazu müsse mir erst ein sog. „Vivliário“ ausgestellt werden, welches wohl den nationalen Krankenschein darstellte.
Also fragte ich, ob man mir hier dieses Vivliário ausstellen könnte. Die Antwort erinnerte an Radio Eriwan: „Im Prinzip schon … aber dafür müssen Sie in den zweiten Stock, Zimmer x!“
Also nahm ich tapfer meine Unterlagen wieder an mich und wanderte die Treppe empor in den zweiten Stock. Einen Fahrstuhl gab es nicht, denn bei der IKA sorgte man schließlich für die Gesundheit der Kundschaft.
Ich fand das entsprechende Zimmer, musste auch hier eine Weile warten, durfte dann aber eintreten und brachte mein Anliegen vor. Der Beamte (?) betrachtete sich meine Unterlagen und holte dann ein mehrseitiges Formular aus dem Schreibtisch. Mühsam schrieb er Yvonnes persönliche Daten aus dem Reisepass ab – ja, ich hatte sogar daran gedacht, mir von einem Einheimischen aufschreiben zu lassen, dass Yvonne mich ermächtigte … dieses Papier schien die ausreichende Anerkennung zu finden. Als das Formular endlich fertig war, musste ich unterschreiben, einige Stempel landeten auf dem Papier … und die Reise ging weiter.
Am Zielort fand ich einen (offensichtlich) Arzt vor, er trug einen weißen Kittel. Dieser las sorgfältig das Antragsformular von Anfang bis Ende durch, betrachtete Yvonnes Vollmacht und Krankenschein und beäugte schlussendlich auch die beiden Apothekenquittungen.
Er legte sie wieder weg und durchwühlte die Unterlagen noch einmal. Dann schaute er mich an?
„Ke pou íne i sintají?“ (Wo ist das Rezept?)
„Den to xéro. Mállon akóma sto farmakío. I stélnoun tis syntajés kápou?“ (Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich noch in der Apotheke. Oder schickt man die Rezepte irgendwo hin?)
Es ging noch ein bisschen hin und her, aber das Ende vom Lied war … ohne Rezept hatte ich keine Chance. Blieb nur zu hoffen, dass der Apotheker in Timbáki das Rezept noch finden würde. Morgen hatte ich ja auch noch Zeit, mein Glück erneut zu versuchen. Sicherheitshalber würde ich Yvonne mitnehmen – wir mussten ja sowie zur Abendfähre und waren darüber hinaus mit der netten Chaniotin verabredet.
Ich hatte Glück: Der Apotheker in Timbaki hob anscheinend alle Rezepte bis an sein Lebensende auf, er hatte eine ganze Schublade voll davon. Und … er fand unser Rezept. Ich atmete auf. Nun würde ich also morgen sicher das Geld bekommen … das Vivliário hatte ich ja schon. Wie ich später feststellte, war das noch gar nicht das Vivliário – nur der (erste) Antrag dafür …
Am nächsten Tag nahmen wir wieder einmal Abschied von Kókkinos Pýrgos, was uns wie immer schwer fiel. Wenn ich mir das heute noch mal so überlege, verstehe ich das gar nicht so richtig, aber sicherlich waren es die Menschen, denen wir damals begegneten. Den vielen einheimischen Freunden und Bekannten und natürlich auch den anderen KP-Bekloppten, die immer wieder kamen. Wahrscheinlich war es so ähnlich wie etwa zur gleichen Zeit in Paleochóra, nur ist Pale schon ein wenig (nein, eigentlich viel) hübscher. So hat halt jedes Tierchen sein Plaisirchen oder Vorlieben …
Also zurück nach Iráklion und zur IKA. Diesmal nahm ich Yvonne mit rein, denn nach den bisherigen Erfahrungen erwartete ich fast, dass meine handschriftliche Vollmacht irgend einem wichtigen Menschen plötzlich nicht mehr reichen würde.
Da ich den Antrag, die andren bisherigen Unterlagen und nun auch das bzw. die beiden Rezepte bei mir hatte, gingen wir gleich durch in den zweiten Stock zu dem Herrn im weißen Kittel.
Wieder betrachtete er sich sorgfältig und akribisch alle Papiere, dann nickte er gnädig, öffnete seine Schreibtischschublade und zog … ein Antragsformular hervor. Mein Gott, nein, nicht noch eins. Es dauerte eine halbe Stunde, bis wir sein Büro mit dem unterschriebenen und abgestempelten Vivliário verließen und uns auf die Suche nach einem Büro im 1. Stock machten, zu dem er uns geschickt hatte.
Wir fanden es: Es war ein Großraumbüro mit etwa 15 Schreibtischen, die alle besetzt waren. An der Tür liefen wir auf eine freundliche Dame auf, die das Büro wie ein Zerberus „bewachte“. Wir legten ihr alle Unterlagen vor, die sie aufmerksam studierte und uns dann an einen Schreibtisch ganz am hinteren Ende des Raumes verwies. Während wir den Raum durchquerten, entdeckte ich voller Überraschung und Vorfreude, dass sich hier in diesem Büro offensichtlich auch die Kasse befand. Und zwar in einem hölzernen, abschließbaren Verschlag an einer Seitenwand des Raumes. Sie war sogar geöffnet, es standen ein paar Leute davor.
Wir erreichten den besagten Schreibtisch und wurden gnädig aufgefordert, Platz zu nehmen. Die also für uns zuständige Dame studierte mit Bärenruhe unsere Unterlagen, dann … jeder ahnt sicher, was jetzt kommt. Sie öffnete ihre Schreibtischschublade …
Inzwischen leicht bis ziemlich genervt fragten wir, wie viele Büros und wie viele Formulare wir denn jetzt noch vor uns hätten. Doch sie beruhigte uns mit einem sanften Lächeln: Was sie da ausfülle, sei die Auszahlungsanweisung, mit der wir im Anschluss zur Kasse gehen könnten … und dann würden wir das Geld bekommen! Wir frohlockten innerlich …
Die Dame war noch mitten in ihrer Arbeit, als das Fenster des Kassenhäuschens geschlossen wurde und ein recht dicker Mann mit einem großen Schnauzbart durch eine Seitentür heraustrat.
Er rief laut durch den Raum: „Mía i óra, tha klíso tóra méchri stis pénte!“ (Es ist ein Uhr, ich mache jetzt bis um fünf zu!)
In Windeseile überschlug ich die Zeit: Um sieben Uhr würde die Fähre abfahren, ich wollte die erhaltenen Drachmen zum Teil in die Tickets umsetzen, denn ein Rücktausch wäre doch recht verlustreich gewesen. Aber nach fünf Uhr noch ein Ticket für das Auto zu bekommen, schien mir trotz der Jahreszeit zu risikobehaftet.
Also gingen mir in diesem Moment ganz nach griechischem Temperament endgültig die Pferde durch. Ich stand auf und brüllte (jawohl: brüllte!!!) durch den großen Raum: „An tha klísis tóra, tha káno to tamío sou ólo jialiá karfiá!“ (Wenn du jetzt zu machst, haue ich dir deine Kasse zu Kleinholz!). Das mochte zwar nicht ganz grammatikalisch korrekt sein, aber verstand es und zuckte mit den Schultern.
„Endaxi, tha periméno!“ (OK, ich warte!)
Offensichtlich hatte ich Schaum vor dem Mund und er hatte Sorge, ich würde ihn beißen und mit meiner Tollwut anstecken.
Unsere Sachbearbeiterin lächelte erneut milde und schien sich jetzt etwas mehr zu beeilen. Und es geschahen Zeichen und Wunder. Wir gingen mit der Anweisung zur Kasse, die nun wieder geöffnet war … und wir bekamen das Geld! Ja, wirklich und tatsächlich! Wir glaubten es kaum, aber die Scheine in unserer Hand fühlten sich nicht virtuell, sondern ganz real an.
Wir wünschten dem Kassierer einen „Guten Appetit“ und sahen zu, dass wir Land gewannen, denn auch wir wollten noch etwas essen, vorher allerdings unsere Mitfahrerin aus Chaniá treffen, um gemeinsam die Fährtickets zu kaufen.
Es klappte alles: Sie war da, wir bekamen Tickets … und dann ließen wir es uns im damals noch guten – nein, sehr guten – Restaurant „Knossos“ am Brunnenplatz schmecken. Heute ist es eher ein Studentenlokal, sehr schade.
Wir fuhren aus bekannten Gründen wieder recht früh auf die Fähre, nachdem wir vorher noch Jorgos in Athen angerufen hatten. Ob er denn morgen früh an der Fähre sein würde und ob seine Einladung noch gelte?
Natürlich lautete die Antwort „sowohl als auch“.