Kreta Herbst 2000 Teil 2

Paleochora – Begegnungen mit alten Plätzen
Paleochora liegt auf einer weit ins libysche Meer hinausreichenden Landzunge. Auf der Westseite ein langer Sandstrand, von Tamarisken begrenzt, auf der Ostseite Steine und Felsen. Paleochora heißt „alter Ort“, und dies ist er auch. Kein reiner Touristenplatz, jedoch vom Tourismus geprägt. Paleochora besitzt Hinterland, Gärten, Felder, fruchtbares Land, von dem Menschen und Tiere existieren konnten. Heute bildet der Fremdenverkehr die wirtschaftliche Basis. Aber es ist immer noch normales Leben zu spüren. Kleine Handwerksbetriebe und all die Geschäfte und Institutionen, die eine kleine Stadt braucht, befinden sich hier.

Die Spitze der Landzunge bildet eine felsige Anhöhe mit einem Plateau. Hier stand das von den Venezianern im 13. Jahrhundert erbaute Kastell. Der exponierte Platz mit dem Kastell stellte einen wichtigen Vorposten zum Meer hin dar, mit weitem Ausblick, Überblick. Ich stelle mir vor, wie einsam und ausgesetzt es hier war, mit dem schroffen Gebirge im Norden und der gleichzeitigen Bedrohung durch Überfälle von Piraten. Ein Schauplatz der Geschichte, der wechselnden Besatzer: Venezianer, Türken.

1941 kamen die Deutschen und besetzten auch das Kastell. Wieder diente der befestigte Platz zur Überwachung der westlichen Südküste. Um die hochgesteckten Afrikapläne umsetzen zu können und die widerspenstigen Kreter in den Griff zu bekommen, benötigte man einen effektiven Verteidigungs- und Beobachtungsposten. Sogar eine Radarstation richtete man ein. Zum Aufbau wurden Männer aus Paleochora und den Bergdörfern zwangsverpflichtet. Bei Weigerung drohte harte Bestrafung. Bald formierte sich die Widerstandsbewegung. Sabotageakte folgten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist das Kastell ohne Funktion und durfte verfallen, sozusagen sich in Frieden auflösen.

Ich möchte die Orte von früher wiedersehen. Wir gehen nach Anidri, einem Bergdorf etwa eine Stunde von Paleochora entfernt. Richtung Osten. Vorbei am Friedhof mit den mit weißem Marmor abgedeckten Gräbern und den bunten Plastikblumen. Vorbei am „Oriental Bay“, einem der ersten größeren Häuser hier, bei dessen Bau wir damals glaubten, jetzt fängt es mit den großen Hotels und dem Ausverkauf des Ortes an – dies war aber nicht so, es hat sich alles gemächlich entwickelt. Der Weg führt durch die großen Gärten und Olivenhaine. Eine Brücke über den Fluss, der Campingplatz, einige neue Bungalows und andere Häuser. Hecken aus mächtigen Feigenkakteen, deren saftige reife Früchte verführerisch orangerot leuchten. Wir nehmen die links abbiegende, breit ausgebaute Teerstraße, die eine Weile später beginnt, sich den Berg hinaufzuwinden.
Früher war es auf der schmalen Schotterstraße ein angenehmes Gehen gewesen. Die Ränder immer wieder ausgefranst, mit Gräsern, Büschen. Jetzt ist alles befestigt, mit Teer versiegelt. Eine ordentliche Straße, nach EU-Richtlinien und mit EU-Geldern gebaut. Ein Gefühl für die Natur, für Notwendigkeiten und Verhältnismäßigkeiten schien da nicht zu existieren. Entwicklung und Erschließung. Ich bin überzeugt, eine weniger breite, halb so gut ausgebaute Straße würde völlig genügen.

Die Umgebung ist schön. Der zugewachsene Flusslauf – zu dieser Jahreszeit trocken. Sanft ansteigende Hügel. Die alten, schiefen, verdrehten Olivenbäume. Manche aus mehreren Stämmen zusammengewachsen, andere gespalten. Mit Hohlräumen, Wucherungen und narbiger Rinde. Aber immer noch mit kräftigen Ästen, dichtem Blätterwerk. Jetzt im Herbst hängen die grünen Früchte wie Tropfen an den Olivenbäumen.

Chania und Rethymnon – Städte im Norden
Busbahnhof. Wir geben unsere Rucksäcke bei der Gepäckaufbewahrung ab. Da ist sie wieder, diese etwas orientalische Athmosphäre. Nichts ist hier glatt und steril wie entsprechende Orte in Deutschland. Hier herrscht wuseliges, lautes Chaos, verlebtes, gelebtes „Ambiente“, ein derber Ton von Ticketverkäufern, Busfahrern, Barmann. Ein Losverkäufer ruft lautstark die möglichen Gewinne aus.

Es zieht uns hinunter zum Hafen, diesem großzügigen, weit geschwungenen Bogen mit den venezianischen Häusern. Nicht mehr viele zeigen sich in der melancholischen Patina von früher, die sich manchmal schon traurigem Verfall näherte. Stattdessen frische Pastellfarben. Der venezianische Hafen ist immer noch ein reizvoller Ort, um am Nachmittag in einem der sich aneinanderreihenden Cafés und Restaurants zu sitzen und sinnierend auf das ruhige Meer, den türkischen Leuchtturm und die Janitscharen-Moschee zu schauen. Die große Kuppel mit den Abstützungen daran wirkt wie eine von kleinen Hauben umgebene Krake. Gleichzeitig denke ich, dass die große Kuppel/ Halbkugel aussieht, als wenn darin etwas ausgebrütet würde und die kleinen Halbkugeln an aus Förmchen gebildete Sandkuchen erinnern. Ich würde gerne das Innere des Gebäudes besichtigen. Es ist leider nicht möglich. Die Türken erbauten die Moschee unmittelbar nach der Einnahme Chanias 1645 als Zeichen ihrer Machtübernahme und als Demonstration der nun herrschenden Religion des Islams.

„Rethymno ist eine kleine Stadt von sieben- bis achttausend Seelen, erbaut am Ufer des Meeres, an der Nordküste von Kreta, auf halbem Wege zwischen Chania und Megalokastro. Es heißt, sie habe in vergangenen Zeiten in der Welt einen Namen gehabt durch ihren Handel, sich hervorgetan in der Kunst der Seefahrt und sogar einige gute Dichter und Maler hervorgebracht, die immer vonnöten sind, um den Ruf eines Ortes unzerstörbar zu bewahren, wenn seine Märkte verstummen und seine Schiffswerften verfallen und seine besten Söhne auf und davon fliegen.“

So beginnt das Buch „Die Chronik einer Stadt“, in dem Pandelis Prevelakis seine geliebte Heimatstadt rühmt. Er blickt auf die Geschichte und den wirtschaftlichen Niedergang Rethymnons und das Leben seiner Bürger in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zurück. Heute ist die Stadt natürlich viel größer, dehnt sich weit in das Hinterland, wächst und wuchert. Die Touristen durchströmen im Sommer die Stadt, und an der Küste reiht sich ein Hotel an das andere.

Von Eva Schuhbeck