Raubfischer auf Kreta

Raubfischer auf Kreta

Der verrostete Pick-up von Manólis stoppte mit quietschenden Reifen vor Jannis‘ Kneipe. Michális winkte aus dem Fenster.
„Ela, Níko, beeil dich!“ Sonst hatten die Dussel immer alle Zeit der Welt, aber jetzt durfte ich nicht mal mehr in Ruhe mein Bier austrinken. Also los! Ich saß kaum richtig hinten auf dem Wagen, ging es schon weiter. Manólis fuhr, als müsse er den letzten 150 Metern bis zur Mole einen neuen Weltrekord fahren.

An der Mole waren Kóstas und Níkos schon dabei, Köder auf das Boot zu laden. Tiefgefrorene Fische, die in der Regel aus Afrika importiert wurden. Manólis reichte noch einige Kisten mit Paragádia hinüber, den langen freischwimmenden Angelleinen, mit denen man hier Jagd auf Schwertfische macht. Dann und wann biss auch ein Hai an, was die Fischer gar nicht so gerne hatten. Er machte viel mehr Mühe und brachte viel weniger Erlös!

Als alles glücklich verstaut war, gingen auch wir drei an Bord. Níkos pfiff vor sich hin, während er  den Diesel startete. Langsam erwachte das Boot zum Leben, als er den Rückwärtsgang einlegte. Während Michális und ich die Ankerkette einholten, beschrieben wir einen Bogen, bis das Boot völlig von der Mole frei war. Dann dröhnte der Motor auf und wir nahmen Fahrt Richtung auf die  Paximádia. Paximádi heißt auf griechisch Zwieback und die beiden kleinen Inselchen vor der kretischen Südküste verdanken den Namen ihrer totalen Trockenheit.

Ungefähr eine Stunde später hatten wir die Inselchen passiert und waren bereit die Paragádia auszulegen. Ich hatte bei dieser Arbeit die Aufgabe, im Tempo der durch Níkos‘ Hände gleitenden Angelleine am jeweils nächsten Haken den Köder zu befestigen. Das war nicht nur schwierig, weil die Fische noch gefroren waren, sondern auch nicht ungefährlich, weil die Haken messerscharf waren. Níkos ließ die Leine immer schnell ablaufen, wenn ich schnell genug war, hatte ich den nächsten Köder schon außenbords, wenn er an der Reihe war, ein oder zweimal schaffte ich es nicht ganz und unter dem aufgeregten „pass auf, Mensch“ der anderen ratschte mir der Haken durch die Finger. Ernsthaft verletzt wurde ich zwar niemals, aber ebenso ging es auch nie ohne die eine oder andere Blessur ab. Aber Níkos hatte es immer eilig!

Als alle Paragádia ausgelegt waren, gab es erst einmal die obligatorische Zigarettenpause. Es war inzwischen völlig dunkel geworden, wir befanden uns weit draußen auf hoher See und hätten Kreta selbst dann nicht mehr gesehen, wenn es hell gewesen wäre. Michális packte die Essensvorräte aus, während Níkos vorne am Bug eine sehr helle Lampe aufhängte, direkt über dem Wasserspiegel. „Wir haben heute keinen Mond, das ist gut!“ stellte Kóstas zufrieden fest. Ganz begriff ich die Zusammenhänge noch nicht, warum wollte Níkos bloß mitten in der Nacht das Meer beleuchten?

Wir hockten uns auf dem Deck nieder, die Rakí-Flasche kreiste. Níkos reichte mir ein Stück Brot, es gab lustigerweise auch Dosenfisch und ein großes Stück Käse. Während wir kauten, schaute dann und wann einer der anderen über Bord und meinte lakonisch: „Sie kommen schon!“ Und allmählich begriff ich, was vor sich ging: Mit der Lampe lockten sie Fische an! Da wir keine Netze an Bord hatten und das Paragádi weit mehr als einen Kilometer entfernt lag, konnte das nur eines heißen: Dynamit! Diese Gangster … Jetzt war ich schon über fünfzig Mal mit ihnen Fischen gefahren und bisher war immer alles ganz korrekt gelaufen. Zuerst wollte ich protestieren, beruhigte mein Gewissen dann aber damit, dass es zum Einen sowieso nichts nützen würde und dass sie zum Anderen wenigstens nicht direkt unter Land bomben wollten, sondern hier, wo das Meer mehrere hundert Meter tief war. Sie würden also nicht viel kaputt machen, außer den Fischen, die sie anlockten. Jetzt erkannte ich auch die zahllosen kleinen silbrigen Schatten, die um das Boot und die Lampe tanzten, es waren Sardinen.

Deshalb war also die Abwesenheit des Mondes so wichtig gewesen, er hätte mit seinem Schein die Fischlein nur von unserer Lampe abgelenkt. Während die anderen die Essensreste wegpackten, tauchte Kóstas aus der Luke auf, ein graues Päckchen unter dem Arm. Während er das Bündel öffnete, wurde mir doch ein bißchen mulmig. Ich hatte schon mehrfach über Fischer gelesen, denen eine Hand oder mehr fehlte, weil sie im Umgang mit Dynamit zu sorglos gewesen waren. Einen davon hatte ich sogar selbst schon getroffen, auch wenn er nicht zugab, wer oder was seine rechte Hand auf dem Gewissen hatte. Kóstas schien weniger Bedenken zu haben, vielleicht las er selten, jedenfalls drückte er noch nicht einmal seine Zigarette aus.

Er wickelte ein Stückchen Zünschnur ab und fummelte es in eine Zündkapsel. Das Kernstück seines Päckchens war dann eine graue unförmige Masse (du lieber Himmel, sie hatten die Zündkapseln zusammen mit dem Dynamit aufbewahrt und wir hatten die ganze Zeit darüber gesessen!). Mit dem Messer bohrte er ein Loch in die Dynamitmasse und versenkte gleichmütig die Zündkapsel darin. Michális schaute ihm fachmännisch über die Schulter und murmelte etwas wie „aber diesmal richtig fest reindrehen!“, worauf Kóstas wie erwartet nicht reagierte. Er umwickelte das Päckchen mit reichlich Klebestreifen, dann packte er es in eine blaue Plastiktüte, nur das Zündschnurschwänzchen schaute noch heraus. Dann umwickelte er das Ganze mit Unmengen von Klebestreifen und Bindfaden und band noch zwei Steine mit ein, damit die „Spezialangel“ auch tief genug sinken würde. Ein Jahrhundertwerk für einen einzigen Bums!
Dann schien er zufrieden zu sein und die anderen wurden jetzt von Unruhe ergriffen. Ich auch, allerdings aus anderen Beweggründen. Manólis und Michális zogen das kleine, im Schlepp mitgeführte Boot näher ans Heck des Kaíki (ich hatte mich schon gefragt, wozu wir das eigentlich dabei hatten) und stiegen hinein. Níkos holte aus dem Inneren des Kaíki zwei Kescher, auch im Beiboot konnte ich jetzt einen liegen sehen. In der allgemeinen Hektik rief mir Níkos zu, ich solle jetzt ans Steuer gehen und auf seine Anweisungen achten. Welche Ehre, sonst ließ er mich nur bei normaler Fahrt ans Steuer, nie wenn irgendwelche schwierigeren Manöver anstanden. Diese „Ehre“ half mir über meinen immer noch ein wenig vorhandenen Widerstand hinweg, auch mich ergriff jetzt das Jagdfieber. Also nahm ich flugs meinen Platz ein, während Níkos den Diesel startete.

Kóstas stand schon am Bug und hatte sich eine neue Zigarette entzündet. Auch der Außenborder des kleinen Bootes brummte auf, sie blieben aber noch hinter unserem Heck. Níkos holte nach einem letzten Blick schnell die Lampe am Bug ein, Kostas hielt die Zigarette an die Zündschnur, diese zischte auf und dann flog das Bündel mitten zwischen die silbrigen kleinen Leiber, platschte auf und versank schnell. Zwei bis drei Sekunden vergingen, ich dachte schon, jetzt sei es doch schiefgegangen, da rumste es heftig vor uns. Eine hohe Wassersäule stieg vor dem Boot hoch, und während sie noch in sich zusammenfiel, heulte der kleine Außenborder hinter uns auf und das Beiboot schoss schräg an uns vorbei. Níkos brüllte, ich sollte endlich mal voran machen, Kóstas und er hatten schon jeder einen Kescher in der Hand und standen gebückt rechts und links am Bug des Kaíki. Ich trat mit dem Fuß gegen die altertümliche Kupplung, auch wir ruckten an, ich war viel zu nervös und hatte zu viel Gas gegeben.

Níkos brüllte ein paar unfeine Flüche in meine Richtung, ich fing mich und das Boot wieder. Dann sah auch ich, daß der gesamte Meeresspiegel um uns herum von Unmengen toter und betäubter Fische silbrig bedeckt war. Weisungsgemäß hielt ich mitten hinein und Níkos und Kóstas schaufelten eilig die Fische an Bord. Langsam verstand ich auch, warum es so schnell gehen musste. Die meisten Fische waren ja wirklich nur betäubt und wir wollten sie an Bord haben, bevor sie wieder zu sich kamen und sich empfahlen. Jetzt wollte und musste auch ich mein Bestes geben! Ich ignorierte Níkos‘ Rufe völlig, wühlte im Getriebe und manövrierte das schwerfällige Boot auf kleinstem Raum immer wieder durch die silbrige Flut. Aus den Augenwinkeln sah ich dabei das kleine Boot immer wieder im Zickzack um uns herumflitzen, Níkos, Kóstas und Manólis schaufelten wie wild, hektische Rufe klangen immer wieder auf. Da aber keine Flüche dabei waren, schien Níkos doch einigermaßen mit meinen Fahrkünsten zufrieden zu sein.

Nach einer halben Stunde war die Meeresoberfläche wieder dunkel. Was wir nicht an Bord hatten, war weggetaucht, aber vielen Fischen schien das nicht gelungen zu sein. Auf unserem Vorderdeck stapelte sich ein mehr als respektabler Haufen silbriger Leiber, auch Manólis im kleinen Boot stand bis zu den Knien darin. Níkos winkte mir zu, die Jagd sei zu Ende und ich stellte den Motor ab. Das kleine Boot kam längsseits, auch der Außenborder erstarb, es wurde fast gespenstisch ruhig. Kóstas reckte sich, ließ ein zufriedenes Grunzen hören, während Manólis und Michális schon damit begannen, die Fische eimerweise herüberzureichen.
Níkos schleppte Kisten herbei, wir schaufelten die Fische hinein und eine Viertelstunde später war auch das geschafft. Das kleine Boot wurde wieder am Heck vertäut, Níkos steckte sich eine Zigarette unter die Nase und verkündete zufrieden, es seien mindestens 90, wenn nicht gar 100 Kilo. Ich muss zugeben, dass ich trotz aller Ressentiments gegen die Dynamitfischerei von seiner Zufriedenheit angesteckt wurde, spätestens dann, als er mir auch eine Zigarette anbot und meinte, er habe doch gewusst, wie gut ich mit dem Kaíki umgehen könne. Wieder kreiste kurz die Raki-Flasche, doch die Feier dauerte nicht lange, wir mussten ja wegen der Paragádia früh wieder raus. Wir rollten uns auf dem Deck zusammen, die Decken stanken gewaltig nach Fisch, doch das störte keinen mehr so richtig.

Meiner Meinung nach war ich noch gar nicht richtig eingeschlafen, als der Diesel schon wieder ansprang. Es war noch dunkel, als das Boot Fahrt aufnahm und Níkos Kurs auf das kleine Lämpchen nahm, welches das Ende des Paragádi anzeigte. Wir anderen lagen alle noch zusammengerollt auf Deck. Zum Glück fand Níkos in dieser Nacht das Lämpchen schnell. Wir rappelten uns auf. Als ich aus den feuchten stinkenden Decken kroch und mir eiskalt wurde, zuckte für einen Moment durch mein verschlafenes Hirn der Gedanke, dass ich doch zum Urlaubmachen hier war. Níkos ließ mir keine Zeit, den Gedanken weiterzuspinnen. Kóstas stand bereits am Bug und hielt den „Gántzos“, einen großen Haken in der Hand, während Níkos das Kaíki sanft auf das Ende des Paragádi zusteuerte. Mit einer geschickten Handbewegung packte Kóstas die Leine mit dem Haken und zog die Boje an Bord. Betriebsamkeit machte sich breit, Níkos schickte mich zum zweiten Mal in dieser Nacht ans Steuer.

Ich will es kurz machen: es war unsere Nacht! Sechs Schwertfische hatten sich an unseren Köderfischen gütlich getan und landeten jetzt einer nach dem anderen im Boot. Níkos war mehr als begeistert! Es war bereits acht Uhr, als die Paragádia alle an Bord waren und ich das Boot wieder Kurs Richtung Kókkinos Pýrgos schwenkte. Kóstas und Níkos nahmen die Schwertfische aus, während die beiden anderen das Boot reinigten. Ich hatte den gemütlichsten Job, aber einer musste uns ja nach Hause bringen :-).

Wir näherten uns der Mole, auf der uns schon eine ganze Reihe Leute erwarteten. Das erste jedoch, was ich deutlich erkennen konnte, war eine Polizeiuniform. So ein Mist, das war’s wohl. Keine Netze an Bord, aber kistenweise Sardinen. Klarer ging es ja wohl nicht … Ich wurde unruhig, doch meine Freunde schien das völlig kalt zu lassen. Manólis ging lediglich zu den Kisten und füllte eine Plastiktüte mit Sardinen.

Während wir anlegten, liefen die üblichen Zurufe von Mole zu Boot und zurück ab: „Was gefangen?“ – „Nicht schlecht!“ – „Laßt mal sehen!“ Níkos hob den größten der Schwertfische hoch und man war beeindruckt! Und die Sardinen?
Die Haltetaue flogen herüber, Michális zog das Boot an den Kai, einige der dort Stehenden halfen bereitwillig. Dann sprang Michális selbst auf die Mole herüber und überreichte dem Polizisten die Tüte. Dieser blickte kurz hinein, nickte lächelnd und ging seiner Wege …
Wir luden alles aus, unter weiteren fachmännischen und anerkennenden Kommentaren der Umstehenden. Kóstas holte von seinem Wagen eine Waage, ich war wie üblich der „Tamías“, also beauftragt, das Kopfrechnen und das Kassieren zu übernehmen … Alles, aber auch wirklich alles war innerhalb einer halben Stunde verkauft. Mein Hemd war prall gefüllt mit Scheinen, als wir zu Jannis‘ Lokal hinaufstiegen.

Níkos bestellte eine Flasche Rakí und reichte eine Tüte mit Fischen, die er für uns abgezweigt hatte, in die Küche: „Fishermens Breakfast“!