Unser nächstes Tagesziel war – man ahnt es vielleicht schon – Kókkinos Pýrgos. Direkt hinter Jannis‘ Kneipe schlugen wir wieder unser Lager auf, auch Jorgos und Christos trafen „pünktlich“ ein. Jannis freute sich uns wieder zu sehen und natürlich auch über die vielen Gäste.
Wie eigentlich nicht anders zu erwarten war, hatten alle unsere Gefährten aber nach zwei Tagen den Ort satt, und so zerstreute sich die Gruppe in alle Winde, nicht ohne vorher Adressen auszutauschen. Jorgos in Athen und Toni in München besuchten wir gegen Ende des Urlaubs tatsächlich.
Zuerst aber mussten wir uns um Yvonnes Abszess kümmern, denn der schwoll immer mehr an und wurde auch immer schmerzhafter. Der Arzt in Timbáki verschrieb ihr eine Salbe, die nicht wirklich half, also fuhren wir nach Iráklion ins Krankenhaus, wo man ihr das Ding ohne Betäubung aufschnitt. Ich bin schon vom Zuschauen fast ohnmächtig geworden und bewundere im Nachhinein Yvonne, wie sie das ertrug. Weitere Medikamente wurden verschrieben, die wir dann wieder in Timbaki einkauften und ihr wurde streng verboten, Baden zu gehen, damit keine weitere Infektion hinzu kam. Ich glaube, das war das Schlimmste für sie. Das Meer ständig vor Augen und nicht hineinspringen zu dürfen …
Zwischendurch fing ich mir einen platten Reifen ein. Also fuhr ich nach Timbáki in die Werkstatt, wo ich aber nur zwei Knirpse antraf. Der Besitzer, ihr Vater, war gerade nicht da. Aber die beiden werkelten eifrig an meinem Reifen herum und er hat trotz eines gewissen Misstrauens perfekt gehalten!
Der Mikrokosmos von Kókkinos Pýrgos bevölkerte sich wieder mit alten Bekannten. Rolf aus Wiesbaden und Joan, eine Englischlehrerin aus München, kamen an. Beide kannten wir schon und es waren ein paar nette Abende. Übrigens sind beide echte Kókkinos Pýrgos-Opfer: Rolf baute einen Unfall kurz vor dem Dorf, als er mit seinem Wagen gegen einen unbeleuchteten Armee-LKW prallte, wobei seine Beifahrerin ums Leben kam. Er hatte natürlich vor Gericht keine Chance gegen die Soldaten, die allesamt beschworen, ihr LKW sei nicht unbeleuchtet gewesen, und wurde seitdem auf Kreta nicht mehr gesehen.
Joan erging es nicht besser, aber das ist wieder eine andere Geschichte, die mich bis heute davon abhält, auf Kreta sesshaft werden zu wollen.
Ich fuhr zwischendurch auch wieder mal mit meinen Fischerfreunden hinaus, aber nicht annähernd so oft und regelmäßig wie zuvor.
Auch einige neue griechische Bekannte waren zu verzeichnen. Zum einen Manolis, ein jüngerer, kräftiger Mann, der in den Gewächshäusern arbeitete und jeden Tag bei Jannis aß. Eines Tages geriet er mit Janni in Streit, weil er täglich Tomatensalat kredenzt bekam, der ihm allmählich zu den Ohren herauskam. Danach aß er dann woanders.
Dann lernten wir „Opa“ Léandros kennen, einen alten Kreter, wie er im Buche steht. Er hatte Haus und Familie in Timbáki, verbrachte seine Zeit aber lieber in einer winzigen Hütte bei seinen Schafen zwischen den Gewächshäusern von Kókkinos Pýrgos, in die er uns einige Male einlud. Dort bereitete er uns in der Pfanne über dem offenen Feuer immer ein sehr schmackhaftes Omelett, wozu es Wein und Mournóraki gab. Inzwischen war unser Griechisch nach zwei intensiven Studiensemestern gut genug, um uns mit ihm zu unterhalten und so wurden es sehr interessante und schöne Nächte.
Als wir nach Hause fuhren, drückte uns Léandros 1.000 DM in bar in die Hand mit der Bitte, diese von Deutschland aus an seine in London studierende Tochter Klio zu überweisen, weil das von Kreta aus so teuer war. Natürlich machten wir das, aber ich bewundere heute noch sein Vertrauen in uns.
In den folgenden Jahren verlief es genau so, das Geld besserte unsere schmale Reisekasse auf, aber kaum waren wir zurück in Deutschland, wurde es zuverlässig nach London überwiesen. Klio lernten wir erst Jahre später persönlich kennen. Sie lebt heute mit ihrem Mann und zwei Töchtern im Elternhaus in Timbáki. Wir haben sie oft besucht, aber auch das sind wieder andere Erinnerungen.
Und dann war da noch der alte Leftéris, ursprünglich ein Bauer aus Áno Méros, der nun aber ebenfalls eine Hütte in Kókkinos Pýrgos bewohnte. Leftéris hatte auf seine alten Tage entdeckt, er sei zum bildenden Künstler berufen und fertigte bildhauerische Werke aus Holz und Stein an. Kunstkenner würden diese Werke naiv nennen, aber sie hatten durchaus was. Leftéris war im Dorf als leicht spinnerter Sonderling bekannt, wozu seine seltsame und manchmal sehr schwer verständliche Sprechweise sehr beitrug. Er tauchte oft bei Jannis auf und hatte uns schnell ins Herz geschlossen, denn wir hörten ihm geduldig zu. Stolz zeigte er uns einen Zeitungsartikel, in dem über ihn und seine künstlerische Arbeit berichtet worden war.
Immer wieder erzählte er uns von seinem Heimatdorf Áno Méros und wünschte sich, mit uns dorthin zu fahren … und eines Tages war es dann so weit.