Es dauerte nicht lange, bis der Mann wieder hereinkam. Er schien es jedenfalls zu sein, denn so richtig konnte man die Männer des Kommandos in ihrer Montur nicht unterscheiden. Im inzwischen beleuchteten Bus nahm er nun Maske und Brille ab und winkte mich zu sich nach vorne. Er hatte ein kantiges Gesicht mit markanten Backenknochen und Kinn. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig.
„Ich darf mich kurz vorstellen, ich bin der Leiter dieser Einsatzgruppe. Mein Name spielt keine Rolle. Es sieht so aus, als wären Sie wirklich eine Hilfe gewesen. Zwei haben wir erwischt. Der eine ist tot, der andere nur angeschossen. Aber der Mann hat eine sagenhafte Konstitution. Drei Kugeln im Körper und er kämpft noch weiter. Inzwischen haben wir ihn aber ruhiggestellt.“
„Ein sehr großer kräftiger Dicker?“
„Genau. Der Tote ist eher klein und schmächtig.“
„Dann fehlt Ihnen ausgerechnet der Anführer. Auch von großem Wuchs, Bart und wilde Haare!“
Mein Blick glitt an ihm vorbei.
„Und ich habe auch eine Theorie, wie er entkommen konnte. Die Fahrertür steht offen, vermutlich ist er dort raus. Er hat vermutlich auf dem Fahrersitz gesessen, denn die automatische Tür wurde in Sekundenbruchteilen geöffnet, und ist auf der Fahrerseite entwischt, während Ihre Männer durch die beiden anderen abgelenkt waren.“
Der Mann folgte meinem Hinweis mit den Augen und nickte.
„So könnte es gewesen sein, gut beobachtet.“
Blitzschnell fuhr er zu seinen Männern herum.
„Nikos, da ist noch einer draußen im Wald. Groß, kräftig, lange Haare und Bart. Setz die Männer sofort in Bewegung und auch die Soldaten. Sie sollen alles durchkämmen. Die anderen beiden bleiben hier.“
„Sagen Sie Ihren Männern aber, dass der Kerl der Gefährlichste von den Dreien ist.“
„Ihr habt es gehört!“
Dann sah er mich etwas misstrauisch an.
„Und woher haben Sie diese Information?“
Jetzt war ich meinem Element und ich vergaß, dass ich besser eher zurückhaltend sein sollte, schon weil ich meinen Informanten nicht preisgeben durfte.
„Erstens bin ich berufsbedingt ein guter Beobachter, zweitens war er offensichtlich der Chef der Bande und außerdem weiß ich, wer die Kerle sind.“
Als sich seine Augenbrauen erstaunt hoben, wurde mir schlagartig klar, dass ich mich verplappert hatte.
„Sie kennen die Burschen? Woher?“
Fieberhaft dachte ich nach.
„Nun, sie haben sich mit Namen angesprochen. Das sind die drei Verbrecher, die aus Limnes geflohen sind. Das stand doch in der Zeitung.“
„Nun Sie haben bereits bewiesen, dass Ihr Griechisch hervorragend ist. Aber dass Sie als Tourist aus Deutschland griechische Zeitungen lesen, ist schon ungewöhnlich. Oder leben und arbeiten Sie hier?“
Verdammt und zugenäht, der Mann war zu clever für mich. Hatte ich es eigentlich in diesem Fall nur mit Leuten zu tun, die mir über waren?
„Nein, nein, ich bin Tourist, aber ich komme schon so viele Jahre nach Kreta, dass mein Griechisch inzwischen recht passabel ist. Und ich interessiere mich nun mal für das, was hier passiert, deshalb lese ich auch einheimische Zeitungen!“
„Und woher kennen Sie die Namen?“
Endlich schrillten bei mir die Alarmglocken mal rechtzeitig. „Standen die nicht in der Zeitung?“
„Nein, da standen sie nicht!“
„Dann habe ich mir das wohl zusammengereimt, weil der eine von ihnen, der Kleine, so etwas Ähnliches zischte, bevor er mich niederschlug. Sie sehen ja wohl die Beule noch!“
„Was sagte er denn?“
„Wir sind aus Limnes abgehauen und da kriegt uns keiner wieder rein! Jedenfalls so ähnlich.“
Karteroudis konnte ja nun nicht mehr gegen mich aussagen.
Mein Gegenüber sah mich nachdenklich an.
„Eine ziemlich wilde Erklärung. Dürfte ich mal Ihren Ausweis sehen?“
„Natürlich.“
Ich atmete auf, denn auf den von mir genannten Namen besaß ich auch einen gültigen Ausweis, da ich vor zwei Jahren mal nach Deutschland geflogen war – ich hatte gerade ein wenig Geld verdient – und einen neuen Ausweis beantragt und erhalten hatte. Er studierte ihn.
„Wann sind Sie denn das letzte Mal eingereist? Und wie?“
„Mit dem Flugzeug, aber ich führe das Ticket jetzt nun wirklich nicht bei mir. Die Straßen sind mir hier zu unsicher. Flugzeuge werden entführt und jetzt sogar schon ein Bus.“
Er grinste. Ich merkte deutlich, dass er sich nicht von mir auf den Arm nehmen ließ. Also versuchte ich es auch nicht weiter. Dann zuckte er mit den Schultern.
„Nun gut, ich will mich mal damit zufrieden geben, sie haben ja offensichtlich nicht nur nichts angestellt, sondern uns auch bei der geglückten Befreiung der Geiseln tatkräftig unterstützt!“
Er gab mir den Ausweis zurück und wandte sich den immer noch vollkommen still da sitzenden Fahrgästen zu.
„Meine Damen und Herren, schön, dass Sie sich so ruhig verhalten haben. Die Sache ist offensichtlich vorbei. Zwei der Banditen sind außer Gefecht und auch der Dritte wird uns nicht entkommen. Zwei meiner Männer, ausgebildete Busfahrer, werden Sie nun zurück nach Rethymnon fahren, in Kürze ist die Sache für Sie ausgestanden.“
„Herr Offizier, Herr Offizier!“
Etwa in Busmitte war eine schwarz gekleidete Frau unbestimmbaren Alters aufgesprungen.
„Ja, bitte?“
„Warum reden Sie nur von drei Banditen? Es waren doch vier! Vier sind hereingekommen. Und der vierte sitzt immer noch hier drin!“
Anklagend wies sie auf Martin Karmann, der sich so klein wie möglich machte, aber unsichtbar wurde er dadurch nicht. Augenblicklich ruckten die Maschinenpistolen der beiden anderen Beamten hoch. Heute ging doch wirklich alles schief! Ich verfluchte die Frau, die Welt und auch mich.
„Interessant! Junger Mann, kommen Sie doch mal ganz langsam und vorsichtig nach vorne. Keine hastige und vor allen Dingen keine falsche Bewegung!“
Zögerlich erhob Martin sich und kam mit halb erhobenen Händen nach vorne. Der Einsatzleiter betrachtete ihn eine Weile, dann wandte er sich wieder mir zu.
„Sie sagten, es seien drei Banditen gewesen. Diese Frau dort behauptet, dass das nicht stimmt! Was sagen Sie jetzt?“
„Er war unbewaffnet und wurde von den anderen genau wie eine Geisel behandelt. Wie soll ich auf die Idee kommen, dass er einer von ihnen sein könnte?“
„Sagten Sie nicht etwas von Ihrer guten Beobachtungsgabe?“
„Eben deshalb. Der Mann ist unbewaffnet, wenn ich das richtig gesehen habe, und ich glaubte, er sei der Fahrer des Wagens, der den Bus stoppte, und genau wie wir eine Geisel. Übrigens könnte es sehr gut ein Mietwagen der etwas besseren Klasse gewesen sein. Eigentlich müssten einige Fahrgäste hier meinen Eindruck bestätigen können. Und außerdem habe ich die erste Zeit direkt hinter ihm gesessen und ihn gefragt. Er hat meinen Eindruck bestätigt. Übrigens hat er sich mir als Thomas Westerholz aus Deutschland vorgestellt. Und dann hat der Gnom das Ganze mitbekommen und mir eine volle Breitseite verpasst, wie ich schon erwähnte.“
Letzteres hatte ich bewusst etwas lauter gesagt, denn es sollten ruhig alle, vor allem aber auch Martin mitbekommen. Es war zwar nur die halbe Wahrheit, aber es konnte kaum einer das Gegenteil beweisen. Ich fühlte mich wieder in sicherem Fahrwasser, musste aber abwarten, ob jemand mir beipflichten oder etwa widersprechen würde.
„Nun, es könnte ja tatsächlich so sein.“
Er wandte sich wieder mal an Martin.
„Kann ich bitte auch mal Ihren Ausweis sehen, Herr Westerholz?“
Da Martin nicht sogleich reagierte, wiederholte der Einsatzleiter die Frage auf Englisch. Ich warf Martin einen verstohlenen Wink zu und endlich reagierte er.
„Oh, I’m sorry, I don’t have my passport with me. It is in the hotel!“
„And where is your hotel?“
„In Rethymnon!“
Der Beamte wandte sich wieder an mich.
„Da ich im Moment nicht auf die Schnelle feststellen kann, ob Sie und der junge Mann hier mir die Wahrheit sagen, bleiben Sie bitte erst mal zu unserer Verfügung hier!“
„Heißt das, wir sind festgenommen?“
Der Beamte lächelte dünn.
„Nennen Sie es, wie Sie wollen. Wir schlagen hier über Nacht unser Biwak auf, da wir immer noch nach dem dritten Mann suchen. Währenddessen werde ich Erkundigungen einholen. Vielleicht sage ich Ihnen morgen früh sehr freundlich bye-bye. So lange werden Sie sich aber noch gedulden müssen. Ich werde Ihnen Schlafsäcke und etwas zu Essen und Trinken besorgen und zwei Soldaten zu Ihrer Gesellschaft abstellen lassen.“
„Das heißt, als Wache!“
Er grinste salzig.
„Ich sagte bereits: Nennen Sie es, wie Sie wollen, ich habe nun erst einmal etwas anderes zu tun!“
Er gab seinen beiden Kollegen einen Wink und verließ den Bus. Diese forderten uns wortlos zum Mitkommen auf und wir leisteten der Aufforderung Folge. Was blieb uns anderes übrig. Wir saßen ziemlich tief im Dreck. Hoffentlich bekamen sie nicht heraus, wer mein Begleiter war. Aber ich zweifelte daran, denn schließlich wusste man seitens der Obrigkeit, dass vier Männer aus Limnes geflohen waren und ich wusste auch, dass es Fotos von Martin gab. Das Beste wäre wohl, irgendwie zu verschwinden, um meinen Fall wenigstens weiter führen zu können. Doch wie?
Zwei blutjunge Soldaten übernahmen unsere „Betreuung“ und bald wurde auch Nahrung in flüssiger und fester Form geliefert. Man wollte uns also wenigstens nicht darben lassen. Während der eine ein kleines Feuer entfachte und wir die erhaltenen Schlafsäcke ausrollten, fuhr der Bus an, wendete an der Abzweigung und fuhr nach Rethymnon zurück. Wir aßen schweigend unser frugales Mahl und spülten mit Limonade nach. Die beiden Soldaten beobachteten uns aufmerksam. Die übrigen waren wie die Männer des Einsatzkommandos im Wald unterwegs und suchten nach Ashkerov. Gefunden hatten sie ihn offensichtlich noch nicht.
Ich lehnte mich zurück.
„Jetzt noch ein Raki, dann wäre das Essen perfekt.“
„Sie mögen Raki?“
„Eigentlich nicht, aber in unserer derzeitigen Situation wäre er mir eine Hilfe.“
„Das verstehe ich jetzt nicht“, erwiderte der andere Soldat.
Ich beugte mich vertraulich vor.
„Weißt du, Kamerad, ich trinke selten Raki, weil mir mein Arzt das verboten hat. Er ist so ein verknöcherter alter Sack, der einem Mann nichts Gutes gönnt.“
Mein Gott, Marika, entschuldige bitte, wie ich dich beschreibe.
„Und?“
„Manchmal habe ich aber große Lust darauf. Habt ihr denn so was da?“
Der junge Soldat grinste.
„Was denkst du denn. Natürlich. Aber wir dürfen ja im Dienst nicht trinken.“
„Ja und, siehst du hier irgendwo einen Vorgesetzten?“
Er schaute sich um.
„Nein, eigentlich nicht!“
„Eben, mein Junge, die tapern alle noch durch den Wald und kein Mensch würde uns dabei stören, wenn wir vier jetzt gemütlich einen zwitschern würden. Ihr seid doch zu unserer Gesellschaft abkommandiert.“
„Äääh, eigentlich zu eurer Bewachung.“
„Das macht doch keinen Unterschied. Also los, besorg uns schon ein Fläschchen. Dein Freund ist ja auch noch da, und der hat ein ebenso großes Gewehr wie du und kann uns Gesellschaft leisten, uns bewachen oder was auch immer. Wir sind friedliche Leute.“
Durch seinen Körper ging ein kleiner Ruck. Er erhob sich.
„O. k., ich besorge etwas. Ich hätte jetzt auch Lust auf ein Schlückchen. Aber erstens, macht keinen Scheiß in der Zwischenzeit, und zweitens verpfeift uns nicht.“
„Versprochen, und nun geh schon. Der Abend ist nicht mehr so jung!“
Er schaute sich noch einmal sichernd um, dann verschwand er. Ich dachte kurz nach, dass ich das Marika gegebene Versprechen hier und jetzt brechen würde, aber das war mir im Moment vollkommen egal. Sie würde es wohl kaum erfahren. Und ich würde mich endlich einmal wieder wohl fühlen.
Und dann stand da plötzlich einer hinter dem verbliebenen Soldaten in den Büschen. Nein, das war nicht etwa Ashkerov, es war mein guter alter Stelios, wie ich im Feuerschein sofort erkannte.
Ich hätte aufjubeln können, aber ich blieb ganz gelassen. Jetzt musste ich den jungen Soldaten ablenken, damit Stelios sich unbemerkt nähern konnte.
„Sag mal, Kamerad, wie ist denn das Leben bei der Armee so? Macht es dir Spaß?“
Der Soldat lachte.
„Wem macht die Armee schon Spaß? Ich muss hin und Feierabend.“
„Aber es ist doch manchmal ganz schön. Man sitzt nachts am Biwakfeuer mit seinen Kameraden zusammen …“
„Na, ich wäre lieber mit einer scharfen Braut in der Disko!“
„Das kann ich nun auch wieder nachvollziehen. Aber …“
Stelios war heran und legte dem Soldaten fast sanft die Hände um den Hals. Hoffentlich erwürgte er ihn nicht. Doch schon glitt ihm das Gewehr aus der Hand und der junge Mann sank lautlos zu Boden, als Stelios ihn freigab.
„Kommt schnell, Jak, der andere wird wohl jeden Moment zurückkommen. Los, vorwärts!“