Abschied vom Großvater

Von Anja und Thomas Otto,
im Gedenken an den am 19.09.2004 verstorbenen Großvater

Wir sind wieder auf unserer Lieblingsinsel Kreta.
Kurz vor unserer Abreise ist Großvater schwer erkrankt, aber niemand verwehrt uns unsere Urlaubsreise, denn Großvater ist ein zäher Bursche und hat schon tiefgreifenderen Ereignissen erfolgreich die Stirn geboten. Alle sind überzeugt, er wird auch dieses Mal die Oberhand behalten.

Heute brechen wir früh auf, wollen wir doch Freunde treffen und mit ihnen eine Wanderung unternehmen. Als wir die Stadt verlassen, steht ein alter Kreter in vollem Sonntagsstaat, auf eine Mitfahrgelegenheit hoffend, an der Straße und winkt. Er möchte in sein Dorf in den Bergen, das zwar nicht direkt an unserer Route liegt, aber mit einem kleinen Umweg zu erreichen ist. Wir laden ihn ein, mit uns zu fahren.

Stolz wie ein König thront der alte Herr auf dem Beifahrersitz, sein sonnengebräuntes, von tiefen Falten durchzogenes Gesicht erzählt aus seinem Leben. Er freut sich über jeden neuen Ausblick und grüßt mit großer Geste alle, die schon so früh unseren Weg kreuzen. Der kretische Morgen weht kühl durch das geöffnete Fenster herein, es stört unseren unverhofften Fahrgast nicht, im Gegenteil, er genießt die Fahrt durch seine Heimat in vollen Zügen.

In seinem Bergdorf angekommen, verabschiedet sich unser Begleiter überschwänglich, er mag gar kein Ende finden, er lädt uns sogar ein, den Tag im Dorf zu verbringen. Wir aber wollen weiter, denn wir werden ja von unseren Freunden erwartet. Mit einem festen Händedruck und vielen guten Wünschen entlässt uns der alte Herr, steht winkend an der Straße, bis wir hinter der nächsten Kurve entschwunden sind. Wir fahren schweigend weiter, hängen unseren Gedanken nach, versuchen, das eben Erlebte einzuordnen.
Ein paar Serpentinen weiter oben fasst Anja einen Gedanken in Worte, der auch mich die ganze Zeit schon bewegt: „Wie unser Großvater!“ Der alte Kreter ist unserem Großvater so frappierend ähnlich, die beiden könnten durchaus Brüder sein.

Unsere Freunde treffen wir etwas später, wir wandern zusammen durch eine Schlucht, es ist ein kurzweiliger, interessanter Tag mit vielen neuen Eindrücken und Begegnungen, aber die erste Begegnung des Tages mit dem kretischen Großväterchen geht uns nicht mehr aus dem Sinn. Immer wieder mischt sich Erstaunen in unsere Gedanken, wie sehr er doch dem kranken Großvater zu Haus ähnlich war.

Abends zurück im Quartier erreicht uns die Nachricht, dass unser Großvater am Morgen seine Augen für immer geschlossen hat. War es sein Abschied in den kretischen Bergen?

Von Anja und Thomas Otto,
im Gedenken an den am 19.09.2004 verstorbenen Großvater