Die Fremdenverkehrsindustrie hält vielerorts für den Reisenden die Möglichkeit bereit, gegen Gebühr an einem kretischen Folkloreabend teilzunehmen. Wie die Werbung suggeriert, handelt es sich hier um einen echten und unverfälschten Abend mit Musik, Tanz, Essen und Trinken in einem griechischen Dorf.
Tatsächlich handelt es sich bei allen diesen Veranstaltungen um eine ziemlich üble Verunglimpfung kretischen Volksguts. Ein in Anógia lebender bekannter Musiker soll einmal geäußert haben, all jene, die ein derart lächerliches Bild kretischer Volkskultur verbreiteten, gehörten am allerbesten und allesamt und sowieso sofort hinter Gitter.
Wie so etwas beispielsweise ablaufen kann und auch abläuft, zeige ich hier an einem Beispiel auf, das ich als Zaungast in einem Ort (den ich aus Datenschutzgründen nicht nennen will) so mehrfach erlebt habe. Es ist die reine Wahrheit, auch wenn ich es ein wenig satirisch wiedergebe:
Am hellen Nachmittag fahren am Veranstaltungsort, in der Regel ein großes Lokal mit vielen Plätzen, nacheinander mehrere Reisebusse vor, wie Herdenvieh drängt es heraus, endlich einmal außerhalb der eigenen Hotelanlage das ursprüngliche Kreta zu erleben. Gleich am Eingang zur Terrasse des Restaurants wartet schon der Wirt oder ein Kellner mit einigen Flaschen hochprozentigen Rakís und schenkt freigiebig aus. Er ist aus eigener Produktion, man kann im Lokal auch die Brennerei besichtigen. Was keiner der interessiert Staunenden begreift, ist eine echte Sauerei: Hier wird der Schnaps nicht aus Trester (dem Rest der Trauben nach dem Keltern) gebrannt, wie es sich gehört, sondern der Einfachheit halber gleich aus Wein … das gibt einen elend dicken Kopf. Die Ankömmlinge schlagen mehr oder weniger zu, denn es ist alles im Preis inbegriffen, und bereiten sich damit optimal auf den Abend vor. Man wird unkritischer mit genügend Alkohol im Bauch!
Nach diesem ersten Umtrunk ist erstmal „Freigang“ im Dorf. Grüppchenweise zieht man also los, sich unter die Einheimischen zu mischen. Die meisten bleiben aber schon entsetzt stehen, wenn sie um die nächste Ecke kommen und die von Einheimischen voll besetzten Kafenía unter den großen Bäumen am Dorfplatz zu Gesicht bekommen. Soll man sich da wirklich hin trauen? Nur der eine oder andere tut’s, die meisten drehen lieber wieder um und flüchten zurück ins ihnen nun schon bekannte Ausflugslokal. Und wer sich doch weiter traut, trinkt wahrscheinlich auch hier einen Rakí und merkt schon nicht mehr, dass der um viele Klassen besser ist. Leider ist er aber auch nicht gratis bzw. im Ausflugspreis inbegriffen.
Gegen Einbruch der Dunkelheit hat sich auch der Letzte wieder eingefunden und es wird ernst. Alles sitzt an großen, langen Tischen, und die allgemeine Pauschalabfütterung beginnt. Widerspruchslos wird gegessen, was auf den Tisch kommt, es ist ja bezahlt. Und ordentlich Rotwein dazu, vom Schlechtesten (aber der muss doch hier auf Kreta so sein, sonst wäre es ja nicht original! Hier ist sie wieder, die „Folklore-Schublade“).
Ist alles aufgegessen und es wird natürlich alles aufgegessen (manchmal balgt man sich gar um das letzte Stück Käse im Bauernsalat), tut sich was auf der Tanzfläche. Einige Dorfjugendliche in traditioneller kretischer Tracht treten auf, der schlechteste Lýraspieler des Dorfes (im Hauptberuf ist er Friseur und Barbier, ich werde mich sicherheitshalber niemals von ihm rasieren lassen, falls er das hier mal gelesen haben sollte) und ein vollkommener Analphabet auf dem Laoúto stimmen eifrig das an, was sie und leider auch alle Besucher für kretisches Volksgut halten (leider aber haben sie vorher zu allem Überfluss die Instrumente nur bedingt gestimmt), und die jungen Leute zeigen, was sie können. Sie können es tatsächlich meist gar nicht so schlecht, ihr Tanz ist noch mit Abstand das beste an der ganzen Veranstaltung.
Ist dann dieser offizielle Teil zu Ende, mischen sich die Tänzer unters Volk und suchen sich ein paar willige Schüler, ihnen die Grundbegriffe des kretischen Tanzes beizubringen, gleich praktisch, vor allen anderen, versteht sich. Da kretische Tänze aber recht schwer sind und ein solcher Schnellkurs vergeblich wäre, wählt man von nun an doch besser den berühmten „Touristensirtáki“, der gar keiner ist, sondern Chassaposérvikos, ein Tanz, der aus immer den gleichen acht Schritten besteht. Das kriegen alle mit der Zeit mehr oder weniger hin, und wer nicht, wird vom langen Bandwurm der Tanzenden einfach mitgeschleppt.
Da kretische Musik nicht zu diesem Tanz passt, hat der Lýra-Spieler sein Instrument mit dem Arm einer jungen Touristin vertauscht, der Laoúto-Spieler hat zum Bousoúki gegriffen, und ein anderer lokaler Profi begleitet ihn nun laut, aber herzlich auf der elektrischen Gitarre. Ein Ohrenschmaus!
So vergeht der Abend im Flug und im Suff, bis die Reiseleiter freundlich, aber bestimmt, zum Aufbruch mahnen, denn sie müssen den ganzen (betrunkenen) Haufen noch ohne größere Magenprobleme bis zu ihren Hotels zurückbringen (angeblich gibt es in den Bussen sogar Kotztüten). Alle sind glücklich, endlich hat man mal was von Kreta gesehen, nicht immer nur das Hotel und den Swimmingpool oder diese ollen minoischen Stätten.
Eine Satire? Leider mitnichten! Es findet natürlich nicht überall ganz genau so statt, aber das Muster ist immer das Gleiche! Und deswegen … es gibt weiß Gott bessere Möglichkeiten, das richtige Kreta kennen zu lernen. Sollte ich jemandem hier irgendwelche Illusionen geraubt haben, das war Absicht.