Gastfreundschaft

In ganz Griechenland rühmt man die besondere Gastfreundschaft der Kreter. Vergebens wird man sie zwar in allen touristisch erschlossenen Gebieten suchen, da ist der Fremde kein Gast, sondern Kunde, und er wird eher in bescheidenem Maße ausgenommen als bewirtet (aber auch hier gibt es viele erstaunliche Erlebnisse und Begegnungen, von denen ich gehört und sie auch selbst erlebt habe).

Im übrigen Kreta aber, und besonders in den Bergen, da kann man heute noch erleben, warum die Worte für „Gast“ und „Fremder“ auf Griechisch beide „Xénos“ heißen. Ich habe immer wieder Leute getroffen, die gleichzeitig erfreut und leicht befremdet davon erzählten, dass in kretischen Dörfern wildfremde Leute sie zur Tür hereinwinkten und ihnen eine Süßigkeit und etwas zu Trinken anboten. In einem Fall mussten die Gäste gar Stunden bleiben und essen und trinken… sowie alle Fotos der Familie bewundern.

Von dieser Gastfreundschaft zehrt nicht nur der Fremde, auch der Kreter empfindet den Besuch als willkommene Abwechslung seines auf dem Dorf doch recht langweiligen alltäglichen Lebens, und so wird er den Dank des Gastes für die Einladung beim Abschied fast immer mit den Worten erwidern: „Ich habe zu danken, für die Gesellschaft“.
Das gilt in dieser Form wie gesagt nur für Gegenden abseits aller gängigen Touristenzentren. Dort nämlich nennt man den Reisenden längst nicht mehr „Xénos“ (Fremder und Gast), sondern „Tourístas“ oder „Pelátis“ (Kunde!).

Und doch, in einem solchen Touristenzentrum, in Plataniás nämlich, habe ich vor einer ganzen Reihe von Jahren eine wahrhaft extreme Form der Gastfreundschaft erlebt. Wir wohnten – zusammen mit unserem kleinen Sohn von einem Jahr – etwas außerhalb des Dorfes, als meiner Frau nachts um 12 Uhr einfiel, dass sie keine Zigaretten mehr habe und dringend noch was zu Rauchen haben müsse. Ich fuhr also ins Dorf hinein und ging in das einzige noch geöffnete Lokal (das optisch und faktisch teuerste am Platz) und fragte dort den Kellner (auf griechisch), ob sie auch Zigaretten verkauften. Er lächelte mich freundlich an, verneinte, fügte aber sogleich hinzu, ich könne seine Schachtel (geschenkt) bekommen. Die Schachtel war praktisch noch völlig voll. Ich freute mich natürlich und lud ihn zu einem Getränk ein (das ich zum Schluss nicht bezahlen durfte), wir unterhielten uns eine ganze Weile, bis er mir folgenden Vorschlag machte: „Komm morgen doch mal mit deiner Frau und deinem Sohn hierher, ich lade euch ein!“
Ich dachte natürlich vorsichtig an eine gewisse Geschäftstüchtigkeit, fand ihn und sein Verhalten aber so nett, dass ich später spontan zu meiner Frau sagte: „Egal, was es morgen Abend kostet. Der junge Mann war so nett, da gehen wir hin!“

Also taten wir das. Er begrüßte uns freudestrahlend, stellte uns seinem Vater vor, der am Grill stand und sogleich unseren kleinen Sohn auf den Arm nahm. Dort saß dieser ungefähr drei Stunden und lutschte begeistert an einem Stück „Kontosoúvli“ (so eine Art horizontales Gyros), während der Kellner uns an einen Tisch komplimentierte. Er reichte uns die Karte mit dem Hinweis, nur Getränke auszuwählen. Auf meine erstaunte Frage, warum, lachte er nur und antwortete, „ich bringe euch was Gutes, ich lade euch doch ein!“ Ein wenig mulmig wurde mir ob der zu erwartenden Rechnung schon, wir waren nicht in irgendeinem Bergdorf!

Also: Wir aßen erst einen herrlichen Salat, dann eine ordentliche Portion Kontosoúvli, dann ein Filetsteak (!!!), tranken dabei ordentlich Wein, Fassbier und zum Schluss Kaffee und Kognak … und dann kam es. Meine Frage nach der Rechnung quittierte er mit vollkommenem Unverständnis, denn er hatte das Wort „Einladung“ wortwörtlich gemeint.

Die Geschichte geht aber noch weiter: Erst am nächsten Morgen erfuhr ich, dass er mitnichten der Besitzer des Lokals war und alles aus eigener Tasche bezahlt hatte. Irgendwie mussten wir uns revanchieren! Der Möglichkeiten gab es nicht viele, wir luden ihn also an seinem freien Tag zu uns ins Ferienhäuschen ein. Meine Frau Yvonne gab sich alle Mühe und zauberte wirklich ein sehr gutes Essen, wir saßen und quatschten. Gegen 2 Uhr morgens wurde er unruhig.
„Niko, meinst du, deine Frau ist böse, wenn wir beide jetzt noch ein bisschen zu den ‚Bouzoúkia‘ gehen?“

Zum Glück war sie nicht böse und wir fuhren an der Nordküste entlang, durch Agía Marína hindurch, bis wir vor einem buntbeleuchteten Etablissement ankamen. Er orderte drinnen gleich eine Flasche Whisky und reichlich Cola dazu, was hier obligatorisch war, und wir genossen noch etwa 4 Stunden mehr oder minder interessanter Musik. Dann war der Whisky alle (wir haben ihn tatsächlich zu zweit getrunken) und ich fuhr mit ihm nach Hause (es ist lange verjährt!).
Als wir uns am nächsten Tag wieder trafen, bedankte ich mich noch mal in aller Form und meinte, „schade, dass es auf der Rückfahrt so nebelig war!“
Er schaute mich an und erwiderte: „Gestern gab es keinen Nebel! Aber du bist gut gefahren!“

Ich habe ihn über Jahre immer wieder besucht, er hatte später ein eigenes Restaurant in Plataniás oberhalb des Platzes. Und jedes Mal, wenn ich kam und ihn nicht sah, brauchte ich nur einen Moment vor seiner Wärmetheke sinnend zu warten, schon tauchte er auf und schlug mir freudig von hinten auf die Schulter. Und ich habe seit jenem Tage bei ihm nie etwas für die Getränke bezahlen dürfen (nur für das Essen) und weiß bis heute nicht, womit ich das verdient habe. Nur seinen Namen weiß ich noch: Thódoros!

Aber: Niemand sollte und darf die kretische Gastfreundschaft zu nutzen versuchen, sich billig durchs Land zu schlagen, denn der Gastgeber hat fast immer weniger als der noch so bescheiden Reisende, das sei bitte nie vergessen.

Andererseits werden einzelne Gegenden Kretas nach und nach durch immer massiveren Tourismus (nicht nur Pauschaltourismus!) immer mehr „verdorben“. Die Kreter bauen auf Teufel komm raus immer neue Hotels und Pensionen oder einfach nur ihre alten Ziegenställe zu solchen aus. Überall, wo viele Ausländer verkehren, wird das Essen immer schlechter. Statt Gastfreundschaft interessiert oft nur noch der schnelle Euro. Und wer ehrlich ist, kann es den Kretern auch nur bedingt verdenken. Man muss mit den vielen Touristen leben, also will man auch von ihnen profitieren. Ärgerlich ist es aber schon, dass sich dieses Gewinnstreben im schon erwähnten Bauboom niederschlägt: Wo in einem Jahr ein Appartementhaus mit zwölf Wohneinheiten stand, ist es im nächsten Jahr auf 24 Einheiten aufgestockt – und darüber hinaus stehen vier andere solche Bauten rechts und links (nicht zu vergessen die sechs halbfertigen Betonskelette 50 Meter weiter).
Wen wundert es schon noch bei einer solch ausufernden Erweiterung der Bettenkapazitäten, dass man jedes Jahr wieder von den Kretern zu hören bekommt: „Dieses Jahr waren aber viel weniger Touristen da als letztes Jahr“. Die offiziellen Statistiken sprechen eine andere Sprache, doch wie soll man das begreiflich machen?