Abschied von Kreta
Am Hafen machen wir uns reisefein. Allerdings sahen Wanja und ich „obenrum“ nach diesen Wochen ziemlich verwegen aus, da wir uns während der ganzen Zeit nicht einmal rasiert hatten.
Wir fuhren extra ziemlich früh zum Schiff, weil je eher man an Bord ging, desto später musste man nächsten Morgen wieder beim Auto sein, wie uns andere Reisende verraten hatten. Erstens konnte man so etwas länger schlafen und dann in aller Ruhe beim Anlegemanöver zuschauen. Zudem waren so früh die besten Schlafplätze an Deck noch frei. Wir wählten diesmal das noch völlig menschenleere Vorderdeck.
Warum dieses so leer und dass unsere Wahl nicht die optimale war, erfuhren wir erst viel später in der Nacht.
Wir breiteten also unsere Schlafsäcke aus und beschwerten sie mit Rucksäcken, weil wir nicht riskieren wollten, dass der Wind sie fort trug.
Dann genossen wir das bunte Treiben auf der Mole. LKW um LKW fuhr in den Bauch des Schiffes, die meisten davon rückwärts, vermutlich hatten sie am nächsten Morgen dann weniger Rangierarbeit und LKW-Fahrer haben es im Gegensatz zu fahrenden Gesellen wie uns ja immer eilig.
Die Stunde des Ablegens nahte und mit jeder Minute wuchs der Abschiedsschmerz. Aber es sind ja immer die schönsten Zeiten, die zu früh zu Ende gehen, wie ich anderweitig schon schrieb.
Als die Besatzung dann pünktlich und unter ohrenbetäubendem Tuten die Leinen los warf und das Schiff sich langsam vom Kai entfernte, ging in diesem Moment symbolträchtig die Sonne hinter dem Gebirge im Westen unter. Wanja, der neben mir an der Reling lehnte, und ich schauten uns an und wir mussten beide wohl Staubkörner in den Augen haben …
Dann sagte er zu mir: „Ich habe noch ein bisschen privates Geld, nicht aus der Kasse, das hauen wir jetzt auf den Kopf.“
Ich hatte nichts dagegen, denn wenn schon der erste Abend mit einer Ouzosause begonnen hatte, so durfte das auch der letzte Abend tun. Allerdings nahm ich mir vor, nur beim Ouzo zu bleiben und nicht wieder zu mischen.
Wie so oft, begann der Abend erst einmal ganz harmlos. Während die Jungs das ganze Schiff unsicher machten (aber sie waren auch alt genug, um nicht über Bord zu fallen), betraten wir die Bar der zweiten und dritten Klasse und bestellten uns zwei kleine Ouzo. Als wir jeder drei Stück getrunken hatten, wurde uns das Prozedere zu umständlich und wir bestellten der Einfachheit halber eine ganze 0,7 l Flasche.
Da wir zur „Feier“ des Tages in Iráklion alle zusammen Gyros-Pitta gespachtelt und zwar bis „zum Abwinken“ (jeder durfte so viel von den ziemlich fettigen Fladen essen, wie er wollte), hatten wir offensichtlich für eine gute Grundlage gesorgt. Zwischendurch kam immer wieder mal einer oder mehrere der Jungs vorbei und den älteren unter ihnen gaben wir durchaus auch Mal ein kleines Gläschen ab.
Als die Flasche leer war, schauten wir uns fast erstaunt an. Unsere Traurigkeit war inzwischen fast gänzlich einer gewissen Aufgekratzheit gewichen, aber betrunken fühlten wir uns eigentlich kaum bis überhaupt nicht. Also orderten wir eine zweite Flasche.
Der Barkeeper zog nur kurz eine Augenbraue hoch, servierte dann die Flasche aber umgehend und nahm sogar dankend an, als wir ihm auch ein Glas anboten. Und so leerten wir gemächlich die zweite Flasche und wurden immer lustiger. Allerdings bin ich sicher, dass wir uns nicht daneben benahmen.
Als wir dann aber noch eine weitere Flasche haben wollten, lehnte der Barmann sehr höflich, aber doch entschieden ab. Wir seien zwar „very nice people“, aber ob wir denn nicht der Meinung seien, dass es vielleicht besser sei, den Abend allmählich zu beenden? Wir waren zwar nicht seiner Ansicht, da er aber so freundlich und höflich war, wollten wir keinesfalls mit ihm streiten. Also beglichen wir die Rechnung und gaben ihm ein anständiges Trinkgeld, es ging ja aus Wanjas Privatschatulle und nicht aus der Gruppenkasse. Dann verließen wir zwar etwas enttäuscht, aber mit Würde die Bar.
Auf dem Weg zum Oberdeck kamen wir aber an einer anderen Bar vorbei und Wanja meinte spontan: „Wenn wir schon unten nichts mehr kriegen, dann trinken wir eben hier noch einen!“ Ich widersprach nicht, also traten wir ein.
Diese Bar sah wesentlich vornehmer aus als die andere, doch das focht uns wenig an. Wir setzten uns an den Tresen und bestellten zwei Ouzo, denn eine weitere Flasche wäre wohl tatsächlich des Guten zu viel gewesen.
Der Barmann bedachte uns mit einem indignierten Blick (erwähnte ich unsere Bärte schon?). Dann informierte er uns ebenso höflich, aber auch ebenso bestimmt wie sein Kollege ein Deck tiefer, dass wir uns hier in der Bar der ersten Klasse befanden und dort gebe es keinen Ouzo, sondern nur Whisky oder Ähnliches. Also änderte Wanja die Bestellung kurzerhand in zwei Whisky. Leider wurde auch dieser Wunsch abschlägig beschieden, mit der immer noch sehr höflich wiederholten Begründung, dies sei wie gesagt die erste Klasse und wir sähen – „sorry Sirs“ – nicht so aus, als wenn wir Passagiere ebendieser Klasse wären.
Es schien also nichts zu machen sein. Gut erzogen, wie wir nun einmal waren, erhoben wir uns und verließen ohne Aufsehen das Etablissement. Vor der Tür blieb Wanja allerdings stehen. „Wenn der glaubt, nur weil der uns so höflich abwimmelt, lassen wir uns auch einfach abwimmeln, irrt er sich. Komm mit, ich habe da eine blendende Idee!“
Wir kehrten also wieder in die Bar zurück. Wanja ging schnurstracks auf einen würdigen älteren Herren zu, der allein an einem der Tische im Sessel saß, und erklärte diesem in seinem schauerlichen Pidgingemisch aus Griechisch und Englisch, wir seien deutsche Pfadfinder, die noch einen kleinen Schlummertrunk zu sich nehmen wollten, ihn aber nicht bekämen, weil wir keine Passagiere der ersten Klasse seien. Ob er uns denn nicht zwei Whisky bestellen könnte, denn er sei ja offensichtlich im Gegensatz zu uns hier richtig. Wir würden selbstverständlich unsere Getränke auch selber bezahlen …
Und nun bewahrheitete sich der alte Spruch, dass die Wege des Herrn unergründlich sind und das Leben immer Überraschungen bereithält.
Der weißhaarige Mann lächelte fast gütig und erwiderte, es sei ihm selbstverständlich ein Vergnügen, zwei deutsche Pfadfinder einzuladen … und dann stellte er sich als der oberste Führer aller griechischen Pfadfinder vor … wir waren baff. Der Herr ließ uns kaum Zeit, unserer Verblüffung Ausdruck zu geben und winkte ebenjenem Kellner zu, der uns soeben aus der Bar komplimentiert hatte. Als dieser an den Tisch kam und uns erneut erblickte, schaute er uns wieder wie zwei fremdartige Insekten an. Unser freundlicher Gastgeber bestellte die Getränke. Da er ziemlich schnell sprach, verstanden wir das meiste nicht, was er dem Kellner sagte, aber zwei Mal waren die Worte „Jermani proskopi“ herauszuhören. Der Kellner lächelte, nickte, eilte davon und kehrte wenig später mit … vier Gläsern Whisky zurück. Er stellte je zwei vor uns hin, wobei er uns bedeutete, dass es ihm leid täte und dass deshalb die beiden zusätzlichen Gläser auf seine Kappe gingen. Inzwischen hatten sich noch zwei andere Herren an unseren Tisch gesellt. Als auch sie mit Getränken versorgt waren, tranken wir darauf, dass deutsche Pfadfinder als Gäste in Griechenland sehr willkommen seien. Wir gaben die entsprechenden Höflichkeiten zurück. Dieser Whisky brachte für Wanja das Fass aber offensichtlich zum Überlaufen.
„Signomi!“
Er sprang auf und eilte aus der Bar. Er schloss die Tür nach draußen nicht, sodass ich – aber nur ich – sehen konnte, wie er sich über die Reling beugte und das fröhliche Ouzo-Gelage wieder rückgängig machte. Er kam nicht wieder zurück. So saß ich da mit drei älteren griechischen Herren und drei (!) Gläsern Whisky, die ich natürlich aus Höflichkeit jetzt alle alleine vernichten musste.
Ich blieb noch fast eine Stunde sitzen, während die drei eine sehr kritische Diskussion über die amtierenden Machthaber um den Obristen Papadopoulos und dem mir schon begegneten General Pattakos begannen. Sie taten das vermutlich aus Höflichkeit mir gegenüber auf Englisch. Da der Whisky aber auch bei mir allmählich Wirkung zeigte, beschränkten sich meine Wortbeiträge auf die ständige Wiederholung der Mitteilung, dass sie froh sein könnten, dass sie außer mir niemand höre. Sie lachten dann jedes Mal.
Nach besagter Stunde hatte ich dem Whiskys tapfer den Garaus gemacht und lehnte nun meinerseits ebenso höflich wie bestimmt jeden Nachschlag ab. Ich begründete dies damit, dass ich am nächsten Morgen fahren müsse und bedankte mich noch einmal herzlich für die genossene Gastfreundschaft. Dann verließ ich die Runde, um mich zu meinem Schlafsack zu begeben.