Der nächste Morgen traf uns schon früh auf der Piste an. Diesmal hatte Wanja die erste Schicht übernommen. Unterwegs sammelten wir noch zwei deutsche Anhalter aus München ein, die natürlich hocherfreut waren, fast die ganze Strecke in einem Rutsch hinter sich bringen zu können.
Die Grenzkontrollen in Evzóni erlebte ich diesmal wach mit, es verlief alles problemlos: Wanja und ich gingen mit dem ganzen Stapel Ausweise nach drinnen, diese wurden ohne große Kontrolle abgestempelt, die Anzahl der Pässe wurden nicht einmal mit der Anzahl der Reisenden verglichen, denn wenn man Griechenland verließ (und nicht gerade vorher aus der Türkei gekommen war), interessierte sich die griechische Polizei nur noch bedingt für einen. Griechen wurden damals bei der Ein- und der Ausreise weitaus penibler und sorgfältiger kontrolliert als Ausländer!
Der einzige, der einen längeren Blick in Wanjas Pass warf, war der Kollege vom griechischen Zoll, denn er musste ja die Wiederausfuhr des Fahrzeugs im Pass bestätigen.
Dann waren wir entlassen. Die jugoslawischen Beamten ein Stückchen weiter in Gevgelija interessierten sich noch weniger für uns, denn wir waren ja nur Durchreisende. Auch hier störte sich niemand daran, dass wir mit zehn Personen unterwegs waren.
Die Strecke durch Jugoslawien zog und zog sich. Es war schon ziemlich Nachmittag, als wir endlich Belgrad erreichten. Ich übernahm wieder das Lenkrad. Um den von der Hinfahrt hinlänglich bekannten nicht ungefährlichen Verkehr auf dem Autoput und später auch die drei erwähnten Alpenpässe zu umgehen, entschlossen wir uns, die weitaus weniger befahrene Nebenstrecke nördlich des Put Richtung Maribor zu nehmen. Wir würden zwar langsamer vorankommen, da man auf dieser Strecke durch zahlreiche Ortschaften fahren musste, aber vor allen Dingen in der Nacht, die vor uns lag, würden wir kaum Verkehr haben. Also würde sich der Zeitverlust in Grenzen halten und es pressierte uns auch nicht.
Es war schon einige Stunden später und stockdunkel, als wir plötzliche alle Hinweisschilder an der Straße vermissten. Außerdem wurde sie irgendwie immer schmaler und wies auch keinerlei selbstleuchtende Begrenzungen auf. Waren wir etwa falsch abgebogen und hatten uns verfahren?
„Egal,“ meinte Wanja, „fahr erst mal immer geradeaus weiter, irgendwo kommen wir schon raus! Und irgendwo wird es dann wieder ein Ortsschild geben, dass wir lesen und auf der Karte finden können.“
„Hoffen wir das Beste!“
Da die Straße vollkommen leer war und ziemlich ohne Kurven verlief, kamen wir recht flott voran. Dann entdeckte ich einige hundert Meter voraus ein Licht.
„Wenn das jetzt eine Tankstelle oder eine Kneipe wäre, könnte man vielleicht mal fragen.“
„Ich glaube nicht, dass das ein Gebäude ist. Siehst du nicht die roten Lampen? Das ist vermutlich ein stehendes Auto. Vielleicht Polizei …“
„Das wäre mal was Neues. Hier in Jugoslawien hatten wir das Vergnügen ja noch nicht!“
In der Zwischenzeit waren wir nahe genug dran, um zu erkennen, dass es sich um einen PKW handelte, der am rechten Straßenrand stand.
„Das ist keine Polizei, die hätten schon lange die Kelle draußen … fahr also zügig vorbei!“
Also gab ich wieder etwas mehr Gas und lenkte den Wagen auf die linke Straßenseite.
Doch plötzlich lief mir irgendetwas kalt über den Rücken. Es war, als wolle mich irgend wer oder irgend etwas vor einer drohenden Gefahr warnen.
An einen Überfall dachten wir wohl beide nicht, aber ich spürte etwas anderes in der Luft, was mir Angst machte.
„Wanja, verdammt, da stimmt etwas nicht. Ich weiß nicht was, aber ich habe ein Scheißgefühl!“
Ich nahm das Gas weg und bremste den Wagen herunter. Gleichzeitig knipste ich das Fernlicht an, um besser zu sehen. Langsam und sehr vorsichtig pirschten wir uns an dem haltenden Wagen vorbei, wobei Wanja feststellte, dass offensichtlich niemand darin saß. Ich schaute nur angespannt nach vorne.
Und dann war er da, der Moment des großen Schrecks. Ich trat mit aller Macht auf die Bremse. Als der Wagen zum Stehen gekommen war, schauten wir beide einen Moment durch die Frontscheibe und wir wollten nicht glauben, was wir sahen: Die Straße endete unvermittelt und ohne jede Warnung in einem riesigen Loch, von dem wir im Licht der Scheinwerfer nur erkennen konnten, dass es etwa die Ausmaße einer Kiesgrube haben musste.
„Mein Gott, hättest du nicht doch gebremst … dann wären wir jetzt alle tot.“
„Na, besser jetzt, als auf der Hinfahrt …“
Es sei versichert, dass dies ein dummer Spruch ohne echten Hintergrund und sicherlich durch den Schock ausgelöst worden war.
Einige der Jungs hinten waren durch die Vollbremsung wach geworden, ein paar fragende Rufe waren zu hören.
„Alles in Ordnung, schlaft weiter!“
Wanja stieg aus und leuchtete mit der Taschenlampe umher. Dabei stellte er nicht nur fest, dass es vor uns scheinbar bodenlos in die Tiefe ging, sondern er entdeckte nur wenige Meter vor dem steil abfallenden Hang einen schmalen Feldweg, der rechts ein Stück hinunter und dann um die Grube herum führte. Wir diskutierten nur kurz, ob wie diesen Weg einfach auszuprobieren oder lieber umkehren wollten. Wir entschlossen uns für Ersteres, denn der Schreck ebbte langsam wieder ein wenig ab.
Vorsichtig lenkte ich den Wagen den dunklen Weg hinunter. Er war erstaunlich gut befahrbar, vermutlich machten es die ortskundigen Einheimischen genauso. Und dass es keinerlei Warnschilder gegeben hatte, erklärten wir uns allmählich damit, dass wir uns wirklich verfahren haben mussten, und dass hier vermutlich niemals andere als Ortskundige entlang fuhren.
Beim Umfahren der Grube wurde uns erst richtig deutlich, wie groß diese wirklich war. Wanja hatte Recht gehabt: Wenn wir diese Grube im freien Flug kennen gelernt hätten, wäre das für alle das Ende gewesen. Und mit ziemlicher Sicherheit nicht nur das Ende dieser Fahrt.
Wir fanden tatsächlich im Dunkeln eine andere Straße, die auch Beschilderungen aufwies. Wir hatten uns um einige 20 Kilometer verfahren.
Wir redeten kaum, denn wir dachten wohl beide über die verdammte Verantwortung nach, die wir mit uns schleppten, und der wir mit Glück und Instinkt gerade noch mal gerecht geworden waren. Plötzlich wurde uns erst so richtig bewusst, was es bedeutet, in einem fremden Land weitab von zu Haus für die Kinder anderer Leute verantwortlich (gewesen) zu sein. Aber es war ja diesmal gerade noch mal gut gegangen. Und wir würden es jetzt auch alle gesund nach Hause schaffen. Nur beinahe hätten diese schönen Tage in einer Katastrophe geendet …
Erst eine halbe Stunde später versuchte Wanja einen Scherz, über den wir beide aber nur ein wenig gezwungen lachen konnten: „Das war bestimmt eine Touristenfalle. Früher lockten doch die Fischer gerne Schiffe mit falschen Leuchtfeuern auf die Klippen, um sie auszuplündern … hier lockt man Autos in Kiesgruben …“
Die jugoslawisch-österreichische Grenze passierten wir gegen drei Uhr nachts ohne dass die Jungs auf der Ladefläche wach wurden. Beide Seiten zeigten nur sehr mäßiges Interesse an uns. Wir fuhren über Bruck und Leoben quer durch Österreich, wobei wir auf dieser Strecke alle wirklichen Pässe vermieden (ich habe zukünftig immer diese Strecke genommen – natürlich aber nicht durch die Kiesgrube).
Der Morgen war schon ziemlich fortgeschritten, als wir Salzburg passierten. Der nächste und letzte Grenzübertritt war nicht mehr fern.
Wanja saß wieder am Steuer und ich hatte mich zu einem Nickerchen nach hinten verzogen. Und dann passte er leider nicht auf. Wir hatten nämlich vorgehabt, auf dem letzten Parkplatz vor der deutschen Grenze unser Auto wieder der deutschen Straßenverkehrsordnung anzupassen und außerdem wenigstens die beiden Tramper zu Fuß über die Grenze zu schicken.
Wir verpassten den Parkplatz, auch der österreichische Grenzposten war irgendwie nicht besetzt und mir nichts dir nichts standen wir mitten im deutschen Zoll.
Ich erwachte durch einen erregten Wortwechsel zwischen Wanja und den Grenzbeamten.
Natürlich wurde alles beanstandet. Das Fahrzeug sei überladen – lächerlich, Wanja hob den Kleinsten hoch und fragte die Zöllner rhetorisch, ob der denn vielleicht eine Tonne wiege –, dann beförderten wir zu viele Personen – na ja, das stimmte – langer Rede kurzer Sinn, trotz aller Streitereien und aus Griechenland übernommener Argumentationsversuchen ließ man uns hier tatsächlich nicht nach Deutschland hinein. Wir waren kurzfristig ausgebürgert. Deutschen Polizisten gegenüber konnte man offensichtlich keine griechischen Methoden anwenden.
Wir setzten also die beiden Münchner ab, räumten das Gepäck nach hinten und setzten uns wieder gesittet und vorschriftsmäßig auf die vorgesehenen Bänke, erst dann ließ man uns überhaupt (!) wieder weiterfahren … leider aber nur in die falsche Richtung, zurück nach Österreich.
So richtig Sorgen bereitete uns dies allerdings nicht, nach dem überstandenen Schrecken der vergangenen Nacht war dieses Problem ein winziges – es gab schließlich noch andere Grenzübergänge.
Wir entschieden uns für den „Nahverkehr-Grenzübergang“ an einer Landstraße unweit Salzburgs.
Und das war auch schon wieder unklug gewesen. Die deutschen Grenzer betrachteten den Wagen mit dem fernen Kennzeichen argwöhnisch und fragten als Erstes, wo wir denn her kämen. Als sie die Antwort „Griechenland“ vernahmen, wurden sie noch misstrauischer. Warum wir denn aus Griechenland kommend nicht den Grenzübergang an der Autobahn benutzten (sie vermuteten vermutlich, wir wollten irgendetwas schmuggeln).
Die schnell vorgebrachte Ausrede, wir hätten in Salzburg übernachtet und das sei hier der kürzeste Weg, zog leider nicht: Wir waren ihnen einfach suspekt.
Zuerst hieß es, alle Rucksäcke auszuladen. Dann krabbelten zwei Beamte auf die Ladefläche und durchwühlten wirklich alles bis auf den letzten Winkel.
Lustige Zurufe wie „wenn Sie bei der Gelegenheit meine Zahnbürste finden, wäre ich Ihnen dankbar“ oder „Vorsicht, in der Tüte sind nur meine Stinksocken“ ignorierten sie hoheitsvoll. Erst, als einer der beiden versehentlich voll in den Kochtopf griff, in dem sich noch reichlich Reste gestern verzehrter Spaghetti mit Tomatensauce befanden – das Spülen hatte sich nicht mehr gelohnt –, da fluchte er doch auf kräftig bayrisch vor sich hin:“Herrgottssakra noch eimo …“ (oder so ähnlich).
Die Visitation des Autos wurde daraufhin abgebrochen, dafür mussten wir sämtliche Rucksäcke in die Wache hineintragen und sie bis auf das letzte Taschentuch auspacken.
Gefundene Wein- oder Schnapsflaschen und Zigaretten stellten bzw. legten die Zöllner wie Trophäen auf den Tresen. Als sie dann aber letztendlich die Flaschen und uns durchzählten, wobei nur die Älteren als volle Personen gerechnet wurden, stellten sie bedauernd fest, dass die ganze Aktion ein absoluter Schuss in den Ofen war. Wir hatten keinen Tropfen zu viel dabei … und auch keine einzige Zigarette. Damals im ersten Jahr hatten wir uns noch nicht so recht getraut.
„Verdammt, da können wir nix mochn,“ zischte einer der Zöllner seinen Kollegen zu.
Und an uns gewandt: „Nu haut’s scho ab! Seht’s zua, dös ihr Land g’winnt.“
Wir ließen uns das nicht zwei Mal sagen.
Deutschland hatte uns wieder. Wenn wir das nicht vorher gewusst hätten, hätten uns die Erlebnisse an dieser letzten Grenze endgültig überzeugt! Es war unwiderruflich vorbei … gegen Abend kamen wir wieder an der Burg an, wo schon einige erleichterte Eltern auf uns warteten – wir hatten von unterwegs ein paar Telefonate geführt – und ihre braun gebrannten, leicht schmuddeligen und müden, aber gesunden und erholten Söhne wieder in die Arme schließen duften. Niemand außer Wanja und mir wusste an diesem Tag, dass es um ein Haar nicht zu diesem Wiedersehen gekommen wäre …
Als wieder Ruhe auf Burg Hohlenfels eingekehrt war, tranken Wanja und ich genussvoll unser erstes Bier seit fast sechs Wochen. Auf Kreta hatten wir uns diesen damals noch sehr kostspieligen Luxus nicht gegönnt …
Dazu hörten wir noch einmal die beiden Langspielplatten, eine mit kretischer Musik, eine mit Bousoúki, die Wanja am letzten Tag in Iráklion gekauft hatte … und wir träumten uns noch einmal zurück, ohne ein Wort zu sprechen. Und dachten nur noch an die schönen Momente.
Aber die Fahrt und der Bericht sind zu Ende …