Kreta 1975 – Teil 6

Der Morgen graute und was er brachte, war wirklich grauenhaft. Hier in der ziemlich geschützten Bucht herrschte zwar nur ein leichter Wind, aber draußen wütete ein Sturm. Wir sahen die Wellen geradezu toben und selbst mir wurde klar, dass wir bei diesem Wetter nicht raus fahren konnten, um die Paragádia einzuholen. Auch wenn wir nicht ängstlich waren, hier hätten drei Hände nicht gereicht. Was blieb uns also übrig, als einfach abzuwarten, ob sich der Wind im Laufe des Tages vielleicht legen würde. Ob unsere Paragádia dann aber immer noch ungefähr da sein würden, wo wir sie ausgelegt hatten, wusste keiner so recht.

So saßen wir trübsinnig am Strand herum, wir waren doch nicht zum Sonnenbaden hier – selbst einige nackte Badenixen konnten uns nicht aufheitern, viele waren es sowieso nicht, denn wenn hier knapp zehn Leute außer uns und Barba Jorgos waren, war das hoch gerechnet.
Gegen Mittag meldete sich allmählich der Hunger, nicht der kleine, sondern ein richtig großer. Aber wir hatten ja am vorigen Abend alles aufgegessen, weil wir davon ausgegangen waren, heute Vormittag wieder zu Hause zu sein. Das war nun aber nix!
Am späten Nachmittag war die Situation noch immer unverändert. Nikos stand plötzlich auf, wechselte ein paar Worte mit Michalis und kam dann zu mir.
„Éla!“ (Komm!)

Wir gingen zu Michalis‘ kleinem Boot, das auf dem Strand lag und schoben es ins Wasser. Nikos startete den Außenbordmotor und wir fuhren zum Kaíki hinüber, das im Schatten der Felsen zwar leicht schaukelte, aber nicht gefährdet schien – der Sturm tobte ein Stück weiter draußen. Als wir ankamen, bedeutete mir Nikos, mich nach hinten zu setzen und dafür zu sorgen, dass das kleine Boot nicht abtrieb. Dann kletterte er an Bord des „Koursaros“ und kehrte kurz darauf mit einer Schrotflinte zurück. Er setzte sich an den Bug des Bootes und wies mich an, das Boot nach Westen zu lenken, aber immer möglichst dicht an der steil aufragenden Felswand entlang, wo das Wasser zwar auch nicht vollkommen ruhig war, aber doch befahrbar.

„Polý kontá na páme, esý to xéris!“ Ich war mal wieder ein bisschen stolz, dass er mir unterstellte, mit dem kleinen Boot besser umgehen zu können als dessen Besitzer. Ganz Unrecht hatte er sogar nicht, denn ich hatte immer wieder dann, wenn mal zwischen den Fischzügen Zeit war, die Zeit genutzt, und war mit Michalis‘ Boot spazieren gefahren. Dieser hatte es offiziell erlaubt. Seine Sicherung des Bootes vor Diebstahl bestand darin, dass er den Verbindungsschlauch zwischen Benzintank (eher ein beweglicher Kanister unter der Rückbank) und Außenbordmotor abzog und bei Jannis deponierte. Dort durfte ich mir den Schlauch jederzeit abholen und auf Spritztour gehen, was ich gerne tat. Mehrfach fuhr ich z. B. mit netten Mädels (so etwas verirrte sich sogar dann und wann mal nach Kókkinos Pýrgos) im Boot nach Agía Galíni, wo ich immer einen Ankerplatz fand, um dort in einem Café etwas zu trinken. Wie man ein Boot fachgerecht anlegt, das wusste ich inzwischen, denn ich hatte es ja auch mit dem wesentlich größeren „Koursaros“ schon oft genug gemacht. Und bei so einem kleinen Boot schafft man das auch alleine. Zum Glück wurde ich niemals von einem Polizisten gefragt, ob ich das denn überhaupt dürfe, heute wäre das sicher so nicht mehr möglich.

Ich lenkte also das Boot zu den Felsen, wo das Wasser wirklich noch relativ ruhig war. Nikos hatte die Flinte geladen und stellte sich nun vorne ins Boot. Er spähte die Felswand hinauf. Dann und wann flogen dort nistende Wildtauben auf. Und schon krachte die Flinte … aber er traf nichts.
„Pio sigá me ti várka!“ (Ungefähr: Halt das Boot ruhiger!)
Ganz so einfach war das nun aber nicht, denn auch hier lag das Meer nicht ganz wie ein still ruhender See da. Aber ich gab mir Mühe … das Endergebnis waren etwa 30-40 verballerte Patronen und vier tote Tauben, die wir aus dem Wasser sammelten. Als ich mir die Quote so anschaute, kam ich zu dem Schluss, dass entweder ich ein schlechter Bootsführer oder Nikos ein schlechter Schütze sein musste. Dann hatten wir keine Patronen mehr und kehrten in die Préveli-Bucht zurück.

Als Barba Jorgos die Tauben sah – und war die Ausbeute auch noch so mickrig – kramte er begeistert in seinen Habseligkeiten und brachte tatsächlich Tomaten, Zwiebeln und Kartoffeln hervor. Olivenöl hatte er auch und so begann Manolis, der wohl von uns am besten kochen konnte, damit, zwei große Tapsiá (das sind diese runden Pfannen mit dem hohen Rand) entsprechend zu füllen – Nikos hatte inzwischen die Tauben küchenfertig gemacht. Zwar waren das eher Kartoffeln mit mickriger Fleischeinlage, aber wenigstens war es was zu beißen. Und so hungrig, wie wir waren, blieb natürlich nichts übrig.
Dass wir immer noch genug zu trinken hatten, versteht sich allerdings von selbst. Davon war immer reichlich an Bord des „Koursaros“ …
Dann und wann schaute einer oder eine der Strandbewohner vorbei, um ein Getränk zu kaufen und auf unsere Pfanne zu schielen, aber ich muss gestehen, wir hatten nichts abzugeben. Es war unsere einzige feste Mahlzeit an diesem Tag.

Wir hofften, am nächsten Morgen die Paragádia einholen und nach Hause fahren zu können.
Doch diese Hoffnung zerschlug sich. Draußen auf dem Meer hatte sich nichts verändert.
Also blieb uns wieder nur Warten …
Gegen Mittag aber waren wir natürlich wieder hungrig bis unter die Ohren. Eine weitere Taubenjagd entfiel wegen fehlender Munition. Aber wir hatten ja noch das kleine Boot.
„Páme sti Damnóni!“
Dicht unter Land tuckerten wir fünf Leute also mit dem kleinen Boot nach Westen, denn in Damnóni gab es ja eine Taverne, da gab es bestimmt was zu essen.
Unterwegs kamen wir an einem Strand vorbei, an dem sich einige Leute nackt sonnten (heute weiß ich, dass es der „Pig Beach“ war). Manolis holte natürlich sofort sein Fernglas heraus und spannte hinüber.

In Damnóni bekamen wir so viel zu essen, dass das Boot auf der Rückfahrt sicher ein paar Zentimeter tiefer lag. Und wir tranken etwas, was ich heute noch als ekelhaft empfinde, damals aber trieb es der Durst hinunter: Retsina mit Cola!

Am nächsten Tag war das Wetter immer noch unverändert. Lefteris wurde ein bisschen quengelig, denn er musste am nächsten Tag arbeiten gehen. Auch Manolis meinte, seine Frau würde sich wohl schon Sorgen machen. Und ich dachte bescheiden an die Fähre, die ich am übernächsten Tag nehmen wollte, sollte und eigentlich musste.

Nikos hörte sich das alles an und entschied, dass wir nun nach Hause fahren würden. Möglichst dicht unter Land sollte es zu schaffen sein. Die Paragadia waren momentan offensichtlich uneinbringbar … mit etwas Glück würde man sie aber auch später wieder finden. Dass dann nichts mehr dran sein würde, was zu verwerten war, war allerdings klar und bedauerlich.

Also brachen wir auf. Ich bekam wieder die Rolle des Steuermannes zugeteilt, und als wir um die erste Felsnase im Osten bogen, wusste ich auch warum. Diese Mistkerle! Der Sturm erfasste uns mit voller Macht und ich musste meine ganze Kraft aufbieten, das Boot selbst ziemlich dicht an Land irgendwie auf Kurs zu halten. Wellen gischteten über das Deck, es war wie bei einem kleinen Weltuntergang. Irgendwann wickelte ich mir in einer kurzen Atempause die Ankerkette um das Bein, weil ich Sorge hatte, ich könne sonst irgendwann ins Wasser gerissen werden. Und dann stemmte ich mich wieder gegen das widerspenstige Ruder und visierte das nächste Kap an.

Derweil standen die vier anderen gemütlich unter dem Dach des Ruderhauses und rauchten.
Es wäre mir im Traum nicht eingefallen, sie um Hilfe zu bitten, da hatte ich jetzt auch meinen Stolz. Immer wieder schlugen die Brecher über mich, aber ich kniff den Hintern zusammen.
Nikos, wenn du unbedingt willst, dass ich dir beweise, wie gut ich inzwischen bin, bitte sehr, das kannst du haben! Und irgendwie war ich auch davon überzeugt, dass Nikos mir zu Hilfe gekommen wäre, wenn er es für nötig gehalten hätte. Und so machte mich sein Vertrauen in mich bei aller Plackerei doch stolz.

Etwa bei Ágios Geórgios ließ der Wind fast schlagartig nach. Plötzlich lief das Boot gehorsam geradeaus. Nikos zündete eine Zigarette an, kam damit nach hinten und steckte sie mir in den Mund.
„Bravo, kalá tó’kanes, vre mástora!“

Dann übernahm er das Ruder und wir fuhren ohne Fang, aber heil und gesund in den Hafen von Agía Galíni ein. Ich war pitschnass und ziemlich fertig, aber stolz wie Oskar, denn ich empfand in diesem Moment Nikos‘ Lob wie einen Ritterschlag. Nun war ich endgültig bei ihnen anerkannt … und ich fuhr in den vielen kommenden Jahren zwar nicht mehr jeden Tag, aber schon öfter mal mit ihnen und anderen wieder hinaus (ich war ja in den nächsten Jahren wieder in charmanter Begleitung, und da muss man auch mal ein wenig Rücksicht nehmen).

Im nächsten Jahr erst erfuhr ich, dass meine Kumpels erst eine Woche später die Paragadia bergen konnten … so lange war das Wetter nicht OK. Wir hätten also noch lange warten können.

Ende