Katastrophen-Management Teil 3

Von Martin Keller
Nach fünf Kilometern war der Reservekanister leer. Die beste Beifahrerin errechnete freundlich einen durchschnittlichen Verbrauch von 100 Litern auf 100 Kilometer. Also stellten sie das Auto ab und dann rannten im mittlerweile strömenden Regen zur Bushaltestelle. Zeus sei Dank lag diese nur für Kilometer entfernt am Ausgangsort. Komischerweise kam der Bus sofort, was eigentlich nie etwas Gutes bedeuten konnte, aber die Lage entspannte sich zunehmend. Martini entschloss sich spontan, seiner leicht genervten Lebensgefährtin einen Shoppingbummel in der Arkadiou zukommen zu lassen.

Zwei Stunden später stand Martini völlig genervt und ohne Kaffee (dafür aber mit einem Dutzend Tüten) an der Bushaltestelle und wartete auf den Bus, der diesmal nicht sofort kam und auch später nicht. Nach einer Stunde vergeblichen Wartens erkannte Martini recht schnell und zügig, das die vermeintliche Bushaltestelle nur für den Schulbus galt. Dieser verkehrte nur bis zum Schulschluss um 13.00, was durchaus logisch erschien.
Der Taxifahrer, den Martini mit einem Sprung auf die Straße stoppen wollte, schaffte es elegant auszuweichen. Gleichzeitig gelang es ihm aber, die ungefähr 50 Zentimeter tiefe Pfütze zu durchfahren, die sich als Flutwelle über den Bürgersteig wälzte. Nun gut, es hätte schlimmer kommen können, dachte Martini als er mit seiner nassesten Lebensgefährtin der Welt nach fünfzig Minuten Fußmarsch die Taverne von Christos in Platanes erreichte.

Endlich, ein Kaffee würde den Tag retten und wer sagt eigentlich, das man Kaffee immer nur morgens zum Frühstück braucht? Im übrigen war es bis jetzt doch nicht mehr als ein überdurchschnittlicher Katastrophentag gewesen, befanden die beiden.
Die Sonne schob sich auch mal für 10 Minuten hinter den Wolken heraus und die Pfützen an ihren Füßen bahnten sich Ihren Weg in Richtung Tavernenausgang.
Nach so vielen Erlebnissen überlegte Martini als „Profipessimist“ gerne, was wohl als nächstes passieren könnte. Dabei fielen ihm die Brückenbauarbeiten ein, die er gestern bei der Anreise böswillig kommentiert hatte. Er überlegte und kam zu dem Schluss, das nun irgendwann im ausgetrocknete Flussbett das Wasser vom Gewitter der Nacht eintreffen müsste. Aus Erfahrung wusste er nämlich, das das etwa 5-6 Stunden dauerte, da sich das Wasser erst aus den Gebirge seinen Weg suchen musste.

„Hase, lass uns doch mal die 300 Meter zur Brücke laufen, vielleicht ist da schon was los“, rief Martini und war eigentlich schon los gelaufen. Er ahnte mit Schaum vor dem Mund sensationsgeifernd die nahende Katastrophe. Einer erfahrenen alten Griechin, die neben ihm im Bademantel zum Ort des vermutlichen Geschehens eilte, ging es wohl ähnlich. Und Martinis düsterste Phantasien wurden von der kretischen Realität wieder einmal bei weiten übertroffen!
Die Behelfs-Asphaltstraße, die durch das Flussbett führte, da die Brücke ja verbreitert werden sollte, war mittlerweile von der Flutwelle erreicht und völlig weggerissen worden. Panisch standen drei kretische Bauarbeiter bis zum Bauch im Wasser und versuchten unter Hilfe eines Baggers, Holzbalken, die auf Paletten lagerten, aus dem Wasser zu retten.

Johlend freute sich die mittlerweile stark angeschwollene Menge der Schaulustigen über jede Palette, die in Richtung offenes Meer davon trieb. In der roten Brühe trieb gerade ein Schaf mit ungläubigem Blick vorbei, als ein Raunen durch die Menge ging. Irritiert drehte sich Martini um und sah gerade noch den alten Stelios, der wild fuchtelnd hinter einem jungen Albaner herlief, der gerade sein Moped gestohlen hatte und versuchte davon zu brausen. Martini geriet in Panik, wohin sollte er denn nun schauen, – welche Katastrophe brachte ihm die größte Befriedigung? Er war wie im Rausch, ja, da war er, der ultimative Katastrophentag! Der Bagger drohte gerade in die Fluten gerissen zu werden und ein völlig verwirrter Autofahrer, der unbedingt die versunkene Straße befahren wollte, war ebenso spannend wie Stelios‘ erfolgreiche Überwältigung des Albaners.

Martini war sich sicher, dieser Tag sei nicht mehr zu toppen und genoß es, daß sich die Katastrophen nicht mehr alleine gegen ihn und die „beste völlig aufgelöste Lebensgefährtin der Welt“ richteten.
Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist, dachte Martini und überraschend und völlig unerwartet fiel ihm der Frühstückskaffee ein. Zurück in Christos‘ Taverne genoss Martini mit der besten Lebensgefährtin den dampfenden Kaffee Elliniko, sozusagen als leicht verspätetes Frühstück. Die Tüten mit den Einkäufen stapelten sich neben dem Tisch. Nach und nach drangen die ersten Gerüchte über die völlige Vernichtung der Brücke in die Taverne. Die Griechin im Bademantel rief noch von der Taverne den Fernsehsender Antenna 1 an und verhandelte über die Exklusivrechte des Katastrophenberichtes, als gerade die Polizei mit einem Albaner vorbei fuhr, der den Traum von seinem ersten Mofa anscheinend in der drei mal drei Meter großen Zelle der Touristenpolizei beenden würde.

Martini genoss es, den Verkehr auf der Straße zu beobachten, das wilde Durcheinander hatte eine besondere Faszination in Hinblick auf zu erwartende Verkehrsunfälle.
Mein Gott, was für Rauchwolken stößt der Bus aus, der wohl an der Bushaltestelle stand, aber nicht einsehbar war für Martini. Der Rauch wurde noch etwas intensiver, völlig klar, gleich würden wohl die Kolben des Busses Sirtaki tanzen und der Motor in den Bushimmel gelangen.
Aber dann war der Rauch leider wieder weg, schade. Martini ging vor die Taverne um sich anzusehen, ob der Bus nun verreckt sei. Aber da war kein Bus. Sein Blick fiel auf einen Schornstein, der sich auf dem Dach einer anderen Taverne befand. Aus ihm kam der Rauch, mal mehr, mal weniger, verbrannte der seine ungeliebte Großmutter oder wieso hatte er im Oktober noch einen Ofen an?

Dann wurde der Rauch mit einem Mal schwarz, dann rötlich, dann wieder weiß, irgend etwas ließ Martini ahnen, das hier etwas Merkwürdiges vor sich ging. Er bündelte seinen Blick auf das Innere der verschlossenen Taverne und meinte zu erkennen, daß im Kamin ein Feuer brannte.
Nichts Ungewöhnliches, sollte man meinen, aber beim näheren Hinsehen war zu erkennen, das der Kamin seine Tätigkeit auch außerhalb des Brennraumes aufgenommen hatte. Der Besitzer hatte für solche Fälle an alles gedacht und knochentrockene Palmwedel unter der Decke angebracht! Martini schlussfolgerte in Bruchteilen von Sekunden: Rauch, Flammen, Palmwedel, Holzausbau, Großbrand … War dieser Tag eigentlich nur für ihn gemacht, sozusagen als Lehrstück in Sachen Chaos?

Die Taverne füllte sich mit hellem Rauch, mit einem Feuerlöscher würde man den Brand sicherlich im Handumdrehen löschen können. Das Wichtigste war, nicht die Türen zu öffnen um dem Schwelbrand keinen Sauerstoff zuzuführen, dass hatte Martini auf einem Brandschutzkursus gelernt. Aber wusste dieses auch der Besitzer, der gerade angerannt kam? Insgeheim hoffte Martini, dass er es nicht wusste und wurde mit einer Galavorstellung des „Flammenden Infernos“ belohnt.
Der Wirt riss die Schiebefenster auf, um den Rauch heraus zu lassen und der Sauerstoff drängte sich an ihm vorbei in Richtung Deckenpalmwedel. Mit einem Overflash entzündeten sich die Brandgase und sorgten dafür, das der Wirt wie Ikarus 5,82 nachgemessene Meter aus seiner Taverne segelte.
Ungläubige Überraschung spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder, als er neben Martini aufschlug und dieser ihm fachmännisch belehrte: Nicht die Türen aufmachen! So mit geballtem Fachwissen vollgestopft lief er zurück und schob die Türen wieder zu. Aber die Glasscheiben wollten angesichts der Hitze nicht im Rahmen bleiben und zogen es vor mit heftigem Abschiedsgeräusch dem begeisterten Wirt, (nennen wir ihn ab jetzt Ikarus) um die hitzegeröteten Ohren zu fliegen.
Martini rechnete aus, wie lange er brauchen würde, um seine Videokamera aus dem Bergdorf zu holen, verwarf diese Idee angesichts der ihm dann entgehenden Urlaubseindrücke sogleich wieder.

Die Straße vor Ikarus‘ Taverne füllte sich in Sekundenschnelle mit Schaulustigen, fast erinnerten Martini diese Massen an eine Osterprozession. In der ersten Etage der brennenden Taverne brach nun eine gewisse Unruhe aus.
Martini sah dort als erstes die Griechin im nassen Bademantel, die kommandostark die restliche Familie in eine Massenpanik versetzte. „Feuer, Feuer“, riefen sie, was ihnen angesichts der nun aus dem Schornstein leckenden Flammen jeder glaubte.
Frauen geraten eben schnell in Panik, dachte Martini gerade, doch da fiel ihm ein, daß er seine beste Lebensgefährtin seit längerem nicht gesehen zu haben. Sie saß wohl immer noch in Christos‘ Taverne, direkt neben dem brennenden Haus. Neben dem brennenden Haus? Bestand vielleicht Gefahr für das Nebengebäude und somit für seine beste Lebensgefährtin der Welt?
Christos‘ Taverne war nicht mehr zu sehen, dicker schwarzer Rauch versperrte die Sicht und ließ schwer einschätzen, ob auch sie in Gefahr war.

An dieser Stelle setzte in Martinis Gehirn der selten genutzte „Wäge-ab-Mechanismus“ ein. Dieser Gehirnteil wird immer erst aktiviert, wenn Beziehungen lange Jahre bestehen. War die beste aller Lebensgefährtinnen wirklich die beste? Lohnte sich ein Rettungsversuch? Waren eine Rauchvergiftung oder eine monatelanger Krankenhausaufenthalt wegen schweren Verbrennungen sozusagen „gerechtfertigt“?
Martinis Gehirnzellen spulten gerade das Lebensversicherungsprogramm der „Besten“ durch. Ergebnis, keine Chancen, Prämien nicht bezahlt! Aber die Einkaufstüten mit dem Schachspiel für 15.000 DRS lagen noch neben der „Besten“. Das gabe den Ausschlag, Martinis Gehirn meldete: „Rettung ist erforderlich“!
Nun begann also das Programm „Edler Retter“, Martini suchte sich hustend einen Weg durch den Rauch.
Frauen sind doch treue Wesen, natürlich saß Martinis „Beste“ noch am Tisch. Frauen würden in Gefahrenmomenten niemals ihr gerade gekauftes Parfüm im Stich lassen. Der Rauch verlieh ihrer Schönheit einen mystischen Glanz und sie hatte den „Rette-mich-mein-Prinz-Blick“ in den Augen.
Martini zog schnell die Tüten mit seinem gerade gekauften Schachspiel an sich und erklärte der „Besten“, dass in wenigen Minuten auch diese Taverne in Schutt und Asche liegen würde und das es besser wäre, ihr Parfüm in Sicherheit zu bringen. Sie sprang zur Eingangstür und verschwand in den Rauchschwaden.
Martini machte sich bittere Vorwürfe ihr nicht gesagt zu haben, das vorne die Gefahr am größten war, aber sein Gehirn erinnerte ihn daran, daß der Notausgang nach hinten für zwei Leute sowieso zu eng gewesen wäre.
Als Martini und sein Schachspiel sich auf den Hinterhof gerettet hatten, hörten sie panische Frauenschreie.
Die Frau im Bademantel hatte ganze Arbeit geleistet! In einer Art Massenhysterie wollten die Frauen im ersten Stock kollektiven Selbstmord begehen und über die Brüstung springen. Unten standen die Ehemänner und flehten die kreischenden Frauen an, nicht zu springen (verständlich, wer sollte dann essen kochen und sich um die Bälger kümmern?)
Wo bleibt eigentlich in dieser Geschichte die Feuerwehr?

Martini ahnte, wo sie sich aufhielt oder besser aufgehalten wurde! Der Leser auch? Man denke an die Brücke und ob Feuerwehrautos auf Kreta schwimmfähig sind!
Mitnichten. Wie Martini später aus gut informierten Kreisen erfuhr, war die Feuerwehr unter Hauptmann Nikos Bozakis wie üblich den Strandweg gefahren, aber an der überfluteten Flussüberquerung war die Alarmfahrt zu Ende. Also hieß es umdrehen und zurück in die Stadt zu fahren, um die Auffahrt zur Schnellstraße zu nehmen und so zur Einsatzstelle zu gelangen.
Etwa vierzig Minuten nach Brandausbruch und nach einem kurzen Aufenthalt an der örtlichen Tankstelle traten dann endlich die todesmutigen Feuerkämpfer in Aktion. Wegen Mangel an Rettungsleitern warfen sie den Frauen im ersten Stock gute Ratschläge und Betttücher hinauf und bestanden auf einem Abseilen der Frauen.
Menschenrettung geht in Griechenland eben nicht unbedingt vor Feuerbekämpfung, denn auch hier gilt das „Umschlagsystem“!

Ikarus (der Tavernenwirt) der sich um seine Lebensexistenz bedroht sah, händigte dem Feuerwehrhauptmann unauffällig diesen Umschlag aus und säuselte etwas von Lage und Evakuierungsplan. In Wirklichkeit waren mindestens soviel Drachmen drin, um Martinis nächste Sitzung bei Frangiskos zu bezahlen.
Nun lief die volle Löschmaschinerie ab! Wasser Marsch! Aber wie? Kein Wasser am Strahlrohr?
Barsche Befehle der Männer verschleierten geschickt diese Tatsache, bis man bemerkte, das ein Pick-Up mit seinem Reifen auf dem C-Schlauch stand. Rein zufällig war es das Auto der Konkurrenztaverne!

Aber nun wurde gelöscht, die Taverne wurde sozusagen geflutet! Überraschend war das Tempo, mit dem das voranging, störend waren nur die sich abseilenden Frauen, welche die Sicht versperrten. Mittlerweile hatte der Brand den Strommast neben der Taverne in Brand gesetzt und die Kabel hielt nichts mehr am Netz.
Martini war fasziniert, als die Stromkabel sich schlangengleich, funken versprühend auf der nassen Straße hin und her bewegten. Sicherlich behinderten sie die Männer bei ihrer Arbeit, aber sozusagen als Abfallprodukt konnte hier die Vorauswahl im Weitspringen für die Olympischen Spiele 2004 getroffen werden. Die Bestmarke, die von den umstehenden Schaulustigen ermittelt wurde, lag bei 5,85 m und somit über dem Flugrekord des Tavernenwirtes Ikarus!
An dieser Stelle ärgerte sich Martini, das er diesen Rekord nicht mit seiner „besten aller Lebensgefährtinnen“ teilen konnte und überhaupt, wo war Sie? Hatte Sie einen noch besseren Katastrophenausblick?

Martini fand sie rußgeschwärzt mit irrem Blick in den Armen einer alten Frau, die ihr gerade erklärte, das auch Parfümflaschen bei starker Hitze platzen. Froh nahmen sich die beiden in die Arme und versuchten verzweifelt die Eindrücke zu verarbeiten. Der Brand war gelöscht und der Umschlag hatte Ikarus wenig geholfen, hätte er den Inhalt doch lieber in eine Feuerversicherung investiert! Aber der Vertreter der Versicherung war ja schon vor Ort, angezogen wie eine Motte. Vielleicht könnte man ja über seinen Vetter Vangelis im nachhinein noch etwas an der Erstprämie drehen, dachte Ikarus und überschüttete den Versicherungsvertreter mit seinem Leid!

So schnell wie das Chaos entstand, legte es sich auch wieder. Der rauchende Stuhl auf der Straße konnte Martinis Aufmerksamkeit nicht mehr fesseln und so beschloss er mit dem „besten aller Brandopfer“ hinauf ins Bergdorf zu fahren!
Fahren? Angesichts eines Verbrauchs von 20 Litern für die Strecke nahm Martini Abstand von dieser Idee. Auf einer Ladefläche eines Pick-up, der gerade seine Schafabfälle zur Müllhalde gebracht hatte, kamen die beiden in ihr geliebtes Bergdorf.

Nun sei der Wunsch nach einem Bad mehr als legitim, meinte die „Beste aller Lebensgefährtinnen“, denn ein Gemisch aus Schaf und Brandgeruch begleitete die beiden zur Dusche!
Da war jetzt nur noch das kleine Problem mit dem heißen Wasser, dachte Martini. Ihm schwante Böses. Sein Hinweis, dass das Duschen mit kalten Wasser Cellulitis vorbeuge, traf mit dem entsetzten Aufschrei der „sauersten aller Lebensgefährtinnen“ zusammen.

Als die Dämmerung hereinbrach, saßen die beiden bei Stromausfall im Dunkel der Leuchte, waren sich aber darüber einig, das so ein Tag kaum noch zu steigern sei! Martini war aber mit seinen Gedanken bei dem Bericht einer Tageszeitung, in dem er gelesen hatte, dass Schafe Erdbeben früher spüren als Menschen.
„Määäääää“, hörte er da von draußen und wurde blass ….

Von Martin Keller