1. Bild
Evthymios ist ein schlanker Mann von 38 Jahren. Sein buschiger Schnurrbart ist sorgfältig gestutzt. Im Moment lehnt er lässig an der großen Eistruhe neben der Tür zum Inneren der Taverne und beobachtet wohlgefällig die gut gefüllte Terrasse. Die Kellner haben reichlich zu tun und so tritt Evthymios seine Zigarette auf dem Zementboden aus und schickt sich an, wieder mit zu helfen. Er ist wie die anderen Kellner gekleidet, schwarze Hose, weißes Hemd.
Er geht zur Küche und nimmt dort zwei große Teller mit dampfenden Souvlaki entgegen.
„Pou páne?“
„Sto dódeka!“
Er eilt zwischen den Tischen hindurch zur Nummer 12. Dort sitzen zwei junge Damen, Touristinnen. Sie streiten sich gerade lachend um die letzte Olive des fast aufgegessenen Bauernsalates. Sie sprechen Deutsch miteinander. Als Evthymios an den Tisch tritt, schauen sie erwartungsvoll zu ihm auf. Ein blaues Augenpaar unter einem kurzen blonden Schopf, ein braunes unter langen rotbraunen Haaren.
„Bitte sehr, die Damen, zwei mal Souvlaki nach Art des Hauses. Passen Sie aber auf, die Metallspieße sind sehr heiß. Oder darf ich Ihnen helfen?“
Geschickt schützt er seine Hand mit einer Papierserviette und streift routiniert die Fleischstücke von den Spießen.
„Voilá, guten Appetit!“
„Das ist aber ein toller Service,“ lacht die Blonde ihn an. „Machen Sie das immer?“
Evthymios will gerade antworten, doch in diesem Moment trifft sein Blick den der dunkelhaarigen Frau und verliert sich in diesen dunklen Augen. Ihr Lächeln ist zurückhaltender als das der anderen, aber so warm, dass Evthymios mit einem Schlag vergisst, warum er hier ist. Er kann sich nicht von diesem Gesicht lösen. Nur ganz am Rande bekommt er mit, dass die Blonde noch etwas gesagt hat.
„Wie bitte?“
„Ob sie uns noch einen halben Liter Rotwein bringen könnten?“
„Natürlich!“
Er stürzt davon. Dann beauftragt er einen der Kellner, den Wein zu servieren und nimmt selbst wieder seinen Platz an der Tür ein. Vielleicht bildet er sich nur ein, dass die Dunkelhaarige zu ihm herüberschaut, als der andere Kellner an ihren Tisch tritt.
Etwa zwei Stunden lang verlässt Evthymios seinen Platz nicht. Die Taverne hat sich inzwischen ziemlich geleert, Tisch 12 ist aber noch besetzt. Mehr als einmal hat sich in dieser Zeit sein Blick mit dem der Dunkelhaarigen getroffen. Und jedes Mal verwirrt sie ihn mit diesem sanften Lächeln.
Als sie dann von dem Kellner, der sie in den zwei Stunden bedient hat, die Rechnung verlangen, winkt Evthymios diesem kurz zu und tritt selbst mit einem Block an den Tisch.
„Sie möchten zahlen?“
„Ach, da ist er ja wieder, der Herr, der so gut Deutsch kann“, rief die Blonde. „Haben Sie in Deutschland gelebt?“
„Das nicht, ich war noch nie in Deutschland“, erwidert Evthymios höflich. „Ich war 8 Jahre mit einer Deutschen verheiratet, und so habe ich Ihre Sprache gelernt!“
„Und wo ist sie jetzt, wenn Sie sagen, dass Sie verheiratet waren?“
Eigentlich will Evthymios nicht antworten, aber dann sagt er: „Sie ist vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“
Um das betretene Schweigen zu unterbrechen, fragt er: „Darf ich Sie denn zum Abschluss des Abends zu einem Ouzo einladen, oder hätten Sie lieber etwas anderes?“
Sie sind beide mit einem Ouzo einverstanden. Evthymios lässt ihn von einem der Kellner bringen und setzt sich zu ihnen. Sie erfahren, dass dies hier sein Lokal ist und nehmen sogar seine Einladung an, am nächsten Tag gemeinsam einen Ausflug zu machen.
Und darüber hinaus hat er nun erfahren, dass die Dunkelhaarige Eva heißt.
Obwohl die Blonde den größten Teil der Konversation bestreitet, entgeht Evthymios nicht, dass jedesmal, wenn er zu der Dunkelhaarigen hinüberblickt, auch ihre Augen auf ihn gerichtet sind.
Evthymios und Eva … er lächelt, als er von ihr träumt.
Am nächsten Morgen fährt er pünktlich am Hotel vor und wundert sich nicht einmal, dass nur Eva ihn erwartet.
„Meiner Freundin ist schlecht, sie will kein Auto von innen sehen.“
„Und Sie?“
„Ich will!“
Evthymios lächelt und öffnet die Beifahrertür.
Sie fahren quer durch die Berge, essen in einem kleinen Dorf, reden, lachen und verleben einen wunderschönen Tag.
Als Evthymios sie abends vor dem Hotel absetzen will, lächelt sie wieder dieses einmalige Lächeln und fragt schlicht: „Wo wohnst du?“ Dann beugt sie sich zu ihm herüber und küsst ihn.
Als er am Morgen darauf eng an sie geschmiegt erwacht, sagt er nur:
„Wir kleben aneinander, es ist heiss!“
„Wie schön“, erwidert sie, „wie Gummibärchen!“
Evthymios ist verwirrt.
„Wie wer?“
„Wie Gummibärchen. Sie kleben auch aneinander in ihrer Tüte!“
Evthymios versteht nicht, denn er hat noch nie Gummibärchen gesehen.
2. Bild
Eva und Evthymios haben eine ganze Woche sehr glücklich miteinander verbracht. Evthymios weiß aber, dass dies vorübergehen wird.
Als sie eines Morgens wieder aneinander kleben wie die Gummibärchen, wagt er es:
„Eva, du weißt, dass ich dich liebe. Bleib bei mir.“
Sie reckt sich hoch.
„Thymo, das geht nicht. Ich habe einen Mann und zwei Kinder. Ich kann sie nicht verlassen.“
„Das verstehe ich schon. Ich weiß, dass die Kinder jetzt bei deiner Mutter sind, das sagtest du schon. Aber ich werde sterben, wenn du mich verlässt.“
„Thymo, ich kann doch immer wieder kommen. Du weißt, ich kann Urlaub machen, wann und so oft ich will. Mein Mann ist Bankdirektor, der hat niemals Zeit, mit mir zusammen zu fahren, die Kinder kann meine Mutter versorgen, was willst du mehr. Ich besuche dich, so oft du willst. Ich kann meine Zuneigung aufteilen, das kann ich. Und du weißt, dass ich dich auch liebe. Wir können so viele schöne Stunden miteinander verleben, aber ich kann meine Familie nicht verlassen. Das kann ich einfach nicht!“
Evthymios schweigt, denn er weiß, dass am nächsten Tag ihr Flugzeug geht.
„Sehen wir uns denn heute Abend noch einmal?“
Ihr Ton ist schüchtern, fast flehend.
„Natürlich, mein Schatz!“
Sie haben einen langen Abschiedsabend gefeiert. Und Eva liegt nun neben Evthymios, frisch geduscht und begehrenswert. Sie kramt in ihrer Handtasche und holt eine kleine Tüte hervor.
„Weißt du, was das ist?“
„Nein.“
„Das sind Gummibärchen! Ich habe die Tüte aus dem Flugzeug. Es ist unsere letzte Nacht und es ist auch ihre letzte Nacht, denn wir werden sie essen.“
Sie reißt die Tüte auf.
„Siehst du, wie sie aneinander kleben?“
Sie reißt zwei Bärchen auseinander und steckt ihm eines davon in den Mund.
„Ja“, erwidert Evthymios düster kauend.
„Man trennt sie und dann tötet man sie!“
„Tötet sie? Es sind doch nur Gummibärchen?“
„Ja es sind nur Gummibärchen. Aber wir beißen ihnen den Hals durch!“
Sie schließt seinen Mund mit einem Kuss, der nach Gummibärchen schmeckt.
3. Bild
Es ist wie immer heiß und hektisch am Flughafen. Fast sind sie zu spät gekommen, weil Eva noch einmal an Evthymios kleben wollte, doch nun stehen sie hier voreinander und wissen nicht so recht, was sie einander sagen sollen.
„Ich komme wieder, Thymo. Ich komme bestimmt wieder!“
Er räuspert sich.
„Weißt du, mein Liebstes. Ein Mann, und besonders ein Kreter, kann nicht teilen, was er wirklich liebt. Eher verzichtet er!“
Er drückt ihr ein kleines Päckchen in die Hand. Sie wickelt es aus.
„Eine Muschel?“
„Von außen sieht sie aus wie mein Herz, schau in ihr Inneres!“
Sie dreht die Muschel herum. In ihr steht etwas geschrieben:
„Leb wohl, mein Gummibärchen. Du wirst mir fehlen!“
Als sie wieder aufschaut, ist Evthymios verschwunden.
Während sie zur Passkontrolle geht, weint sie, denn sie ahnt, dass sie ihn nie wieder sehen wird.
Sie kommt natürlich zurück nach Kreta, doch die Taverne hat einen anderen Namen und einen anderen Besitzer. Und niemand kann oder will ihr sagen, was aus Evthymios geworden ist. Niemand!