In einer Silvesternacht

Es ging auf Mitternacht zu. Bei den Familien im Dorf wurde der Neujahrskuchen angeschnitten und die Fenster geöffnet, damit das alte Jahr aus den Häusern hinaus und das Neue hinein konnte.

Der Köhler Nikos lebte alleine. Er hatte es sich mit einer Flasche Raki vor dem Kamin, der sein kleines Haus heizte, gemütlich gemacht. Schon seit Jahren fühlte er sich an solchen Tagen ein wenig einsam. Der Neujahrskuchen, den ihm die Nachbarin vorbei gebracht hatte, stand unangeschnitten auf dem Tisch.
„Wenn Sie schon alleine leben, Herr Nikos, dann sollen Sie wenigstens eine Vassilópitta bekommen. Und wenn Sie sie alleine essen, werden Sie auch das Geldstück finden … und dann haben Sie im nächsten Jahr Glück! Ich würde Sie ja gerne zu uns einladen, aber wir fahren zu unseren Verwandten nach Chania.“

Wozu brauchte er Glück? Er sehnte sich nach dem Sommer, denn dann hatte er Arbeit und Gesellschaft. Zwar war die Arbeit hart, man musste ja praktisch rund um die Uhr ein Auge auf die Meiler halten, doch er beklagte sich nicht. Er hatte sein bescheidenes Auskommen, sein Häuschen und er war damit eigentlich zufrieden.

Nikos lächelte versonnen vor sich hin. Er war nun knapp 50 Jahre alt und hatte immer allein gelebt. Nicht, dass ihn keine gewollt hätte, aber sein Leben als Köhler war einer Beziehung nicht eben zuträglich. Von Frühjahr bis Herbst war er praktisch nie zu Hause, sondern im Wald bei seinen Meilern. Früher schliefen sie auf dem nackten Boden, inzwischen hatten sie einfache Container, in denen sie nur wenige Stunden pro Tag schliefen. Wie hätte es da eine Frau mit ihm aushalten sollen?

Er schenkte sich gerade ein neues Glas ein, als die Kirchturmuhr schlug. Es war Mitternacht! Er tat zwar immer so, als ob er auf solche Bräuche nichts gäbe, aber er erhob sich und öffnete das Fenster. Los komm, du neues Jahr. Komm herein, lass es wieder Sommer werden … der Winter schmerzt in den Knochen!

Nikos schaute zum Himmel. Schnee war gefallen und im Augenblick war der Himmel sternenklar. Ihm fiel ein Satz ein, den er mal gehört hatte: „Schau zum Himmel und jeder Stern, den dDu siehst, ist ein Gedanke an dich!“

Er schüttelte den Kopf. Ein schöner Satz, ja, aber wer sollte an ihn schon denken?
Gerade wollte er das Fenster wieder schließen, als er eine Stimme hörte: „Entschuldigung.“
Sein Blick wanderte wieder nach unten und er sah eine Gestalt vor sich stehen. Er hatte sie in seinen Gedanken nicht kommen gehört. Er traute seinen Augen nicht. Vor seinem Fenster stand eine junge Frau. Sie war zierlich und blond. Und sie lächelte ihn an. Unwillkürlich lächelte er zurück, auch wenn er sich in einem Traum wähnte. War da ein Engel vom Himmel gefallen?

„Entschuldigen Sie, dass ich sie belästige. Ich habe ein Problem mit dem Auto. Ich wollte zu Freunden im nächsten Dorf, aber jetzt habe ich eine Panne. Mein Auto steht ein wenig entfernt, und ich sah hier Licht.“
„Sind Sie Griechin, mein Fräulein? Sie sehen nicht so aus, aber Sie sprechen gut Griechisch!“
„Nein, ich bin nur zu Besuch hier. Können Sie mir vielleicht irgendwie helfen, es ist kalt und ich weiß nicht, wie ich dieses Auto wieder in Gang bekomme.“
„Ich verstehe nichts von Autos, aber ich weiß, dass man niemanden auf der Straße stehen lassen darf, der Hilfe braucht. Kommen Sie doch erst einmal herein?“
Sie zögerte nur kurz, dann nickte sie ebenso dankbar wie entschlossen. Nikos ging zur Tür und öffnete sie. Sie trat über die Schwelle. Mit einer ausholenden Handbewegung wies er über den Raum.
„Zumindest ist es warm hier drinnen, auch wenn ich Ihnen sonst nicht viel bieten kann. Setzen Sie sich vor den Kamin. Möchten Sie einen Raki?“
Sie strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht und lächelte ihn von unten her an, sie war wirklich viel kleiner als er. Bei diesem Lächeln schlug Nikos‘ Herz zwei Takte schneller. Es war wirklich ein Engel vom Himmel gefallen!

Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn über eine Stuhllehne.
„Sie sind sehr freundlich. Vielen Dank. Ihren Kamin kann ich jetzt gut gebrauchen. Und ich gebe zu, gegen einen Raki hätte ich auch nichts einzuwenden.“
Nikos lächelte und schenkte ihr ein Glas ein.
„Prost!“ Er erhob sein eigenes. Sie lächelte wieder und Nikos‘ Herz legte noch ein paar Takte zu.
„Prost!“ Sie stießen an und tranken. Dann schüttelte sie sich ein wenig.
„Stark, aber lecker!“
„Ein Freund von mir brennt ihn selbst.“
Dann lehnte er sich nachdenklich zurück.
„Ich weiß nur noch nicht so richtig, wie ich Ihnen sonst helfen kann. Wir werden heute Nacht noch mehr Schnee bekommen, und wie gesagt, mit Autos kenne ich mich nicht aus. Vielleicht darf ich Ihnen anbieten, die Nacht hier zu verbringen. Ich schlafe selbstverständlich auf dem Boden.“

Nun lächelte sie nicht mehr, nun musste sie lachen.
„Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet. Sie sehen nicht aus wie ein Mann, der die Notlage einer Frau ausnutzt!“
Die Notlage eines Engels, setzte Nikos – aber nur in Gedanken – hinzu.
„Haben Sie schon zu Abend gegessen?“
„Leider nein.“
„Ich habe nicht viel im Haus“, wollte Nikos gerade erwidern, doch dann fiel sein Blick auf den Neujahrskuchen.
„Wollen wir nicht diesen Kuchen gemeinsam essen? Ein Glas Raki ist sicher noch in der Flasche!“
Sie schaute ihn an, dass ihm schwindelig wurde.
„Sie sind wirklich sehr lieb, und deshalb nehme ich das Kuchenangebot dankend an.“
Nikos holte ein Messer und zerteilte sorgfältig den Neujahrskuchen in 8 Stücke.
„Jeder die Hälfte, hauen Sie rein. Guten Appetit!“

In den folgenden Minuten war es ruhig, denn beide kauten auf dem etwas zu trockenen Kuchen herum. Dann griff sie plötzlich an ihre Wange.
„Au! Ich habe auf etwas Hartes gebissen!“
„Das muss die Münze sein! In den Neujahrskuchen wird eine Münze eingebacken. Wer sie findet, hat im nächsten Jahr viel Glück!“
Sie griff sich in den Mund und holte tatsächlich eine in Stanniolpapier eingewickelte Münze heraus. Sie wickelte sie aus.
„Eine alte Drachme!“
„Die bringt noch viel mehr Glück als der neue Eurocent!“
Sie mussten beide lachen und Nikos schenkte die Gläser nach.

Dann biss er wieder in sein Kuchenstück. Er kaute genüsslich und beobachtete die ihm gegenüber sitzende junge Frau mit Andacht. Immer wieder strich sie eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrer Stirn. Ihm gefiel diese energische und kokette Bewegung.
Doch dann stieß auch sein Gebiss auf etwas Hartes, dass er jetzt nicht mehr erwartet hatte. Das konnte doch jetzt nicht …?
Doch, auch er hatte in seinem Kuchenstück eine Münze gefunden. Offensichtlich hatte sich die Nachbarin beim Backen vertan oder es besonders gut gemeint. Er wickelte das Geldstück aus und legte es neben das andere. Sie glichen sich wie Zwillinge.
„Nehmen Sie das, dann haben Sie doppelt Glück!“
Sie lachte.
„Das wäre geschummelt. Nein, nun werden wir beide Glück haben! Ich habe aber vorhin schon Glück gehabt, als Sie das Fenster geöffnet haben und die Sterne betrachteten. Sonst hätte ich mich nicht getraut, zu klopfen.“
„Die Sterne,“ murmelte Nikos versonnen, „kennen Sie das Sprichwort? Jeder Stern am Himmel ist ein Gedanke an dich?“
„Ja, das habe ich schon mal gehört,“ erwiderte sie und lächelte wieder. „Und das stimmt auch.“

Sie legte ihre Hand auf die seine und schaute ihn nur an.
Nikos wusste in diesem Augenblick, dass ihm das neue Jahr Glück gebracht hatte.