Gedanken zu Kreta von Ursula Exner

Rethymno – Hafen
Fest steht der Leuchtturm, eine Stütze für die Schiffe und die Seele.
Leise schaukeln die weiß-blauen Fischerboote mit den sanften Wellen.
Die Fischernetzte sind sauber eingerollt und warten auf ihre tödliche Tätigkeit.
Hunger der Touristen?
Überleben der Fischer?
Griechische Wimpel flattern im Wind.
Das weiße Fährschiff gönnt sich die verdiente Ruhe.
Am Abend wird es sich wieder in die gichtwogende See stürzen, um die Menschen nach Athen zu bringen.
Schmale Häuser mit kleinen Balkonen warten auf einen neuen Anstrich.
Die venezianische Zeit ist schon lange vorbei.
Weiße große Sonnenschirme schützen vor der bräunenden Sonne.
Tische und Stühle, dicht an dicht gedrängt, bedecken den gepflasterten Boden.
Menschen genießen bei Getränken die harmonische Stimmung.
Kellner versuchen, Touristen zum Essen zu animieren.
Kommerzielle Freundlichkeit?
Wo ist die kretische Gastfreundschaft geblieben?
Ein Schwertfisch wird geputzt, kleine Tintenfische über der Leine zum Trocknen aufgehängt.
Geschäftiges Treiben in der Küche:
Salat putzen, Tomaten und Gurken schneiden!
Reicht der Oregano?
Ist das Fleisch frisch?
Wie wird das Geschäft heute?
Ein Akkordeonspieler vermittelt französische und italienische Atmosphäre.
Eine herrenlose Katze sucht nach Futter und Zärtlichkeit.

Rethymno – Abend
Lichter leuchten den Weg zum Hafen.
In Tavernen und Geschäften herrscht reges Treiben.
Warum können die Leute nicht wenigstens grüßen, wenn sie hereinkommen?
Sie kommen, rasen durch das Geschäft, schauen alles an und kaufen nichts.
Sind das Menschen?
Na ja, dann zählen eben die Einnahmen!
Kinder freuen sich über bewegliche Spinnen- oder Marionettentiere.
Trinkbecher werden mit dem eigenen Foto verziert.
Hölzerne Dinosaurier warten auf Käufer.
Möchte jemand ein geschmücktes Haarband?
Wer bucht eine Schiffstour nach Balí?
Der beleuchtete Turm überragt die angestrahlten Häuser und Fischerboote. Warmes Licht deckt Putzschäden und Fehler zu.
Die Szenerie ist erfüllt von Menschen.
„Dorfsalat oder Tzatzíki?“
„Wo bleibt der Retsína?“
Sie wissen auch nicht, dass Trinkgeld hier üblich ist.
Zwei Musiker spielen an den Tischen.
Stavros schnappt sich das Bouzoúki und fällt ein.
Endlich – er spielt auf der Lyra die Omalós-Ballade – ein Kreter singt mit.
Maria schimpft:
Hör endlich auf, die Touristen mögen das nicht!“
„Gut, wie du befiehlst.“
Lyra weggepackt, Stühle weggeräumt, Mülleimer ausgeleert, Tischdecken zusammen geknüllt, Schilder rein gebracht.
„Mein Gott, immer diese Hektik, dieser Stress!“
Ein Gitarrenspieler aus Bulgarien:
„Kreta ist wie meine Heimat, Deutschland ist kalt und herzlos.“
Ave Maria – von Bach – Vollmond – Tränen des Glücks, unendliche Sehnsucht.

Wohin gehst du, Kreta?
Blühende Oleandersträuche an der Autostraße
– verziert mit Plastiktüten und Papierstücken!
Dunkelsilbriggrüne Olivenbäume
– geschmückt mit Plastikfetzen der Gewächshäuser!
Karminrote Mittagsblumen
– gekrönt mit weißen Plastikbechern!
Ein Schmetterling flattert in der Sonne
– hustend wegen der Autoabgase!
Oregano und Salbei erfreuen sich des Lichts,
– höhnend bedeckt ein weggeworfener Herd sie mit Schatten!
Klar und voll Energie fließt der Quell aus der Schlucht
– und nimmt im Vorbeigehen die Ölreste eines abgestellten Autowracks mit!
Hell erstrahlt das Licht, geschützt durch die Atmosphäre
– wärmt sich ein abgelegter Kühlschrank an den Sonnenstrahlen!
Wach auf Kreta, sonst wirst du ersticken und verbrennen!

Von Ursula Exner