Nach Süden nun sich lenken, die (Wander)Vöglein allzumal …
Es ist noch früh, als ich den Motor anlasse. Einige der Jungs waren so schlau, sich gleich auf dem Auto schlafen zu legen und blieben so einfach noch ein Weilchen liegen. Die anderen bereiteten den Proviant vor, denn auf der Wanderung, die vor uns liegt, will man sich ja auch zwischendurch mal stärken können. Wenn ich hier schreibe „vor uns“, dann traf das für mich leider diesmal nicht zu, denn ich habe die Auslosung, wer von uns beiden (Wanja und mir) mitwandern und wer das Auto von Omalós nach Chóra Sfakíon bringen würde, „verloren“. Ich war also der Fahrer und würde die Samariá frühestens im nächsten Jahr von innen sehen (insgesamt bin ich in den Folgejahren vier Mal durchgelaufen, aber das wäre eine andere Geschichte).
Kurz hinter Chaniá ging die Sonne auf, und während der Fahrt in die Lefká Óri hinauf genossen wir immer wieder den Blick zurück auf das Ägäische Meer, das in der Morgensonne glitzerte, als hätte man Silber auf das Wasser gegossen.
Gegen neun Uhr kamen wir am Schluchteingang an. Insgesamt zehn – wir hatten auch noch Insassen der anderen Wagen dabei – machten sich auf den Weg. Johnny hatte sich gestern den Fuß verstaucht und würde mir nun für den Rest des Tages und der Fahrt nach Süden Gesellschaft leisten. Wir verfolgten die Wanderer noch eine Weile bei ihrem Abstieg in die Schlucht mit den Augen und sahen uns an der beeindruckenden Landschaft hier oben satt, bevor wir dann auch selbst aufbrachen. Die engen Kurven zu fahren, machte mir immer mehr Spaß.
Dann hatten wir wieder die Nordküste erreicht und fuhren ostwärts Richtung Vrýsses. Die Gegend zwischen Kalýves und Vrýsses (wie schon erwähnt, gab es hier damals die „New Road“ noch nicht, die endete ja beim Fort Izzedine) gehört zu den landschaftlich schönsten Kretas, man fährt tatsächlich durch einen richtigen Wald.
Wir stoppten kurz, um einigen Köhlern bei der Arbeit zuzusehen. Leider fiel uns damals die Kommunikation noch ziemlich schwer, vor allem, weil ich die vollkommen falsche Aussprache der einigen wenigen Vokabeln, die mir Wanja auf der Fahrt beibrachte, von ihm auch übernommen hatte.
Dann gab ich den 54 Pferdchen wieder ordentlich Zucker und so kam es natürlich, wie es kommen musste. Niemals hatte ich in den folgenden Jahren so viel Kontakt mit der Polizei wie in diesem ersten. Es kommt mir im Nachhinein so vor, als sei die Staatsmacht damals noch viel präsenter gewesen als heutzutage, nun, das kann auch möglich sein, denn es war noch die Zeit der griechischen Militärjunta. Ansonsten bemerkte man als Ausländer nicht sehr viel davon, wenn man mal von den vielen Propagandaplakaten absah, auf denen immer wieder der Soldat vor dem Phoenix abgebildet war …
Aber jetzt zurück zur Geschichte. Wir fuhren nach Vrýsses hinein. Die Einfallstraße von Westen her ist ein langes Stück schnurgerade und gut zu übersehen, also dachte ich mir nicht viel dabei, als ich ein altes klappriges Dreirad vor mir mit der Hupe an die Seite scheuchte und zügig überholte. Das hätte ich allerdings besser gelassen, denn noch während ich mich wieder zurück auf die rechte Straßenseite bewegte, trat etwa 50 Meter vor uns ein Uniformierter aus dem Schatten eines Straßenbaumes (wo ich ihn natürlich nicht hatte sehen können) und hob gebieterisch die Hand. Notgedrungen hielt ich also an. Da ich keine Ahnung hatte, wie man sich in Griechenland in einem solchen Fall am besten verhielt, blieb ich einfach im Auto sitzen und harrte der Dinge, die auf uns zukommen würden.
Die kamen sehr gemessenen und selbstbewussten Schrittes, wie ich im Rückspiegel beobachten konnte. Der Polizist lugte durch einen Schlitz der Plane, die wir jetzt wieder geschlossen hatten, um festzustellen, ob wir irgendwelche heiße Ware geladen hatten.
Dann kam er an der Fahrerseite immer noch aufreizend langsam nach vorne. Seine Miene war mehr als amtlich, als er mich musterte. Dann aber glitt sein Blick von mir ab und zu unserem 12-jährigen Johnny auf dem Beifahrersitz. Ich erwähnte es noch nicht: Johnny war ein zartes Bürschlein mit einem sehr hübschen Gesicht und schulterlangen blonden Haaren. Ich weiß nicht, ob der Beamte ihn als Mädchen einschätzte oder ob das Geschlecht eigentlich egal war, jedenfalls aber vollzog sich im Gesicht des Polizisten eine bemerkenswerte Änderung, die sich mit Worten kaum beschreiben lässt. Ich will es trotzdem einigermaßen versuchen: Seine Augenbrauen zuckten ebenso erstaunt wie erfreut nach oben und ein fast seliges Lächeln verklärte sein eben noch strenges Gesicht. Johnny lächelte ihn wohl schüchtern an – ich weiß es nicht, denn ich behielt den Polizisten im Auge – denn dessen Lächeln unter dem exakt gestutzten schmalen Bärtchen wurde immer breiter. Innerlich atmete ich auf, denn wenn er so aussah wie ein verliebter Ameisenbär, konnte es nicht so schlimm werden.
Dann schaute er mich wieder an, wobei sich sein Gesichtsausdruck nur unwesentlich veränderte:
„Where are you from?!
„We are from Germany. Jermani proskopi.“ (deutsche Pfadfinder, ich erwähnte es bereits).
Sein Lächeln verstärkte sich abermals.
„Where are you going to?“
„Chóra Sfakíon.“
„Oh, I’m from there. Have a good travel, and …“ er hob kurz mahnend den Zeigefinger … „siga siga!“ (Immer langsam voran!).
Ich nickte ergeben: „Yes Sir, thank you …“
Mit einer kurzen, aber hoheitsvollen Handbewegung waren wir entlassen. Ganz sanft ließ ich den Wagen wieder anrollen und schaute hinter der nächsten Kurve kurz zu Johnny hinüber.
„Ich habe mich ja schon vorher gefreut, nicht alleine fahren zu müssen, aber jetzt gebe ich dir einen aus, soviel Taschengeld hat Wanja mir gegeben.“
Er verstand nicht sofort.
„Wieso das denn jetzt?“
„Weil mir deine Anwesenheit vermutlich ziemlichen Ärger erspart hat. Was soll’s, musst du nicht verstehen. Willst du eine Limo oder eine Cola? Und übrigens, lass dir bloß nicht die Haare schneiden!“
Er verstand mich wohl immer noch nicht so ganz, aber wir mussten beide herzhaft lachen, während wir Vrýsses gen Süden wieder verließen. Wir schraubten uns wieder in die Berge hinauf, überquerten die Askífou-Ebene und fuhren dann entlang der Ímbros-Schlucht (ich muss wohl nicht immer wieder erwähnen, dass ich alle diese Namen erst Jahre später in meinem Hirn speicherte).
Als sich der Blick auf das Libysche Meer vollends vor uns öffnete, konnte ich nicht anders, ich fuhr rechts ran auf einen kleinen Schotterparkplatz und wir schauten minutenlang schweigend auf diese großartige karge Landschaft. Die Straße wand sich in vielen Schleifen nach unten, das Meer dahinter lag ruhig in der gleißenden Sonne … einfach überwältigend. Nach einer Weile ließ ich den Motor wieder an und wir rollten gemächlich nach unten. Der sonst so vorlaute und lebhafte Johnny saß mit offenem Mund ganz still und klein neben mir und brachte kein Wort heraus. Mir ging es allerdings nicht viel anders.
Erst als wir mehr oder weniger unten waren, löste sich allmählich dieser Bann.
„Ey großer Bruder, das ist echt super hier.“
„Ja, das ist es, und ich bin sicher, dass ich hier nicht zum letzten Mal war.“
„Hast du nicht immer gesagt, du fährst nicht zwei Mal auf die gleiche Insel?“
„Ach, Johnny, mein Vater sagt immer – und ich glaube, das stammt vom ollen Adenauer: ‚Was gebe ich auf mein dummes Geschwätz von gestern.‘ Verlass dich drauf, hier fahre ich weitaus mehr als einmal hin …“ Das bestätigte sich, wie allgemein bekannt ist.
Wir parkten den Wagen in Chóra Sfakíon und erkundeten erst einmal das Dorf. Nun, es gab nicht viel zu erkunden und so setzen wir uns an die Hafenpromenade und verprassten das uns vom Zahlmeister gewährte Taschengeld. Wir aßen ein göttlich gutes Moussaka, ich trank meinen Wein (Bier war damals einfach zu teuer) und Johnny freute sich an mehreren Flaschen Limonade.
Der Nachmittag war schon ziemlich fortgeschritten und wir machten uns allmählich ein paar Gedanken, wann denn der Rest der Truppe aus der Samariá endlich eintreffen würde.
Plötzlich erregte eine größere Gruppe von Männern in Anzügen, die die Promenade entlang kamen, unsere Aufmerksamkeit, auch deshalb, weil in den umliegenden Lokalen die Einheimischen aufstanden und applaudierten. Vorne weg schritt ein mittelgroßer Mann mit einer kompletten Glatze in selbstbewusster Haltung, der freundlich nach links und rechts grüßte. Dann wanderte er mit seinem Tross zu einer Luxusyacht, die ich schon seit einiger Zeit bewundert hatte. Wenig später legte das Schiff ab …
Natürlich war ich jetzt neugierig geworden und so fragte ich den Kellner, als er eine neue Karaffe Wein brachte, wer der Herr denn sei. Er blickte sich scheu um.
„This was General Pattakos!“
„From the Junta?“
„Yes, but it is better …“
„OK, OK, I understand …“
Während der Kellner sich entfernte, lief das Boot aus der Samaria in den Hafen ein. Wir erkannten unsere Freunde an Deck.
„Na, dann scheint ja alles glatt gegangen zu sein.“
Sie waren nur durstig. Nach einer Stunde aufgeregten Geschnatters, jeder wollte mir aus seiner Sicht erzählen, wie toll es gewesen war, bestiegen wir wieder unser Wohnmobil und rollten nach Osten. Wir rollten allerdings sehr gemächlich, denn die Strecke Richtung Frangokástello und Plakiás war damals noch in einem sehr mäßigen Zustand. Von Asphalt keine Spur, und so stiegen am folgenden Tag manche der Jungs auch einfach aus und liefen neben dem Wagen her … aber am folgenden Tag sind wir noch nicht!
Bei Frangokástello parkten wir den Wagen am Strand und warteten dort auf Ernst und Fränz, die am nächsten Vormittag tatsächlich eintrafen. Es lebe die nicht organisierte Organisation, so viel hatten wir von den Kretern inzwischen gelernt.