Kreta 1973 – Teil 2

Wir waren inzwischen auf Kreta angekommen und hatten einige Tage zum Akklimatisieren wie so gerne beim Kiani Akti (bei Kalýves) verbracht. Der Bulli stand unter einem schattenspendenden Strohdach direkt am Fluss und wir verbrachten den größten Teil des Tages essend im Lokal. Es gibt dort zwar auch heute noch keine riesige Speisenauswahl, aber alles, was angeboten wurde und wird, war und ist allererste Klasse. Nicht umsonst ist das Lokal bei den Einheimischen sehr beliebt, wie andernorts schon mehrfach erwähnt.

Dann aber wollten wir die angefressenen Pfunde wieder ein wenig abtrainieren, also beschlossen wir, die Samaria-Schlucht anzugehen. Allerdings gedachten wir, es anders zu machen, als heutzutage üblich, nämlich in der Schlucht zu übernachten (was man heute ja nicht mehr darf). Es gab auch damals keinerlei winterliche Beschränkung, in der man dort nicht wandern durfe. Nach diesem Marsch weiß ich auch, warum es sich geändert hat …
Wir würden also fast unser komplettes Hab und Gut durch die Schlucht tragen, denn wir brauchten für die Übernachtung die Schlafsäcke, Lebensmittel etc.

Die „Planung“ sah dann so aus: Wir fahren mit dem Bulli nach oben und parken ihm am Schluchteingang. Unten von Agía Rouméli aus würden wir mit dem Schiff nach Chóra Sfakíon fahren – wir machten uns überhaupt keine Gedanken, ob es um diese Jahreszeit überhaupt ein Schiff gab – und dann zurück nach Chaniá trampen. Wer als erster ankam, sollte dann mit dem Bus oder ebenfalls per Anhalter wieder nach Omalós hinauf und das Auto holen. Und ansonsten wollten wir uns jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit in einem Lokal in der Nähe des Busbahnhofs treffen. Wie man sicher erkennen wird, es war alles sehr locker geplant (und genau so locker sollte es auch kommen – wir brauchten fünf Tage, um uns wiederzusehen. Fünf für mich recht angenehme Tage …).

Aber zuerst war die Schlucht angesagt. Recht schwer bepackt, denn wir wollten ja weder Hunger noch Durst leiden noch sonst etwas vermissen (auch die beiden Gitarren mussten mit), stiegen wir am späten Vormittag die hölzernen Treppen hinab. Wir hatten keine Eile, denn es war ja schließlich auch die Übernachtung vorgesehen. Ich weiß nicht, ob man es heute noch nachvollziehen kann, aber wir haben von oben bis zum verlassenen Dorf Samaria keine Menschenseele getroffen! Nur ein paar Ziegen an den Wänden der Schlucht beäugten neugierig die vorbeikommenden Wanderer. Damals hielt ich sie für echte Agrimia, heute zweifle ich ein wenig daran.

Auch im „Dorf“ war erst einmal niemand zu sehen. Also „besetzten“ wir eines der dächerlosen Häuser und richteten uns behaglich ein. Nachdem wir in der Umgegend Holz gesammelt hatten und der Abend hereinbrach, schürten wir unter dem Hordenpott ein Feuer, um uns einen wärmenden „Tschai“ zu bereiten, der aus wenig Tee, viel Rotwein, Rosinen und einer Flasche Rum bestand (letztere hatten wir zur Sicherheit aus Deutschland mitgebracht).

Erst als wir das Feuer entfachten, merkten wir, dass wir hier doch nicht ganz allein waren. Auf der anderen Seite des Bachbettes erschien eine Gestalt, die uns wild zuwinkte und einige unverständlich klingende, aber eindeutig ärgerliche Worte zurief. Wir ignorierten die Gestalt, nachdem wir ein paar Steine in ihre Richtung geworfen hatten und sie in Deckung ging. Der Tschai war gerade so richtig am Brodeln, da stand der Typ plötzlich neben uns – er musste sich heran geschlichen haben. Es war der örtliche Feldhüter, der natürlich hatte eingreifen wollen, als er das Feuer bemerkte.

Nun aber begutachtete er es aus der Nähe und stellte fest, dass hier wohl keine Marodeure, sondern Fachleute am Werk waren, und deshalb keine größere Gefahr bestand. Da auch wir eher friedlicher Natur waren, wurden wir schnell einig. Er saß mit uns die halbe Nacht am Feuer und trank und sang mit uns. Zu fortgeschrittener Stunde sang er ganz alleine Verse, die wir zwar nicht verstanden, die uns aber ziemlich anrührten. Wie ich später lernte, waren es alte kretische Mantinades. Musik und Gesang verbinden eben auch ohne dass man die Worte versteht.
Als wir den großen Topf geleert hatten, schwankte der Feldhüter davon (der Alkoholgehalt des Gebräus war wirklich heftig) und wir krochen in unsere Schlafsäcke. Vorher hatte er noch nach Süden gezeigt und versucht, uns etwas zu erklären, was mit dem Wort „neró“, also Wasser zu tun hatte. Wir kapierten es allerdings nicht wirklich

Am nächsten Morgen verstanden wir es. Wir waren aufgebrochen, um die engste Stelle der Schlucht zu erreichen und fanden sie voll Wasser vor. Das ist wohl auch der Grund, warum die Schlucht in heutiger Zeit nur im Sommer bewandert werden darf. Die „Sideroportes“ waren ein einziger Fluss. Was nun? Sollten wir umdrehen und wieder nach oben laufen?

Hallo, spinnst du, da hatten wir schon andere Sachen gemacht. Wir waren jung, fit und unbekümmert. Also zogen wir uns aus, packten sämtliche Kleidungstücke in die Rucksäcke, die Gitarren noch oben drauf, nahmen das Ganze auf die Köpfe und stiegen ins Wasser. Zwischendurch bekam ich mal gewisse Bedenken, denn die strömenden Fluten reichten uns bis zur Brust. Und doch ging es gut. Die Gitarren blieben trocken. Nur rollte mir mittendrin ein respektabler Stein über den Fuß und so vollendete ich den Rest des Marsches, nachdem wir wieder aus dem Wasser gestiegen waren, ebenso humpelnd wie fluchend.

Agía Rouméli bestand damals nur aus ein paar Häusern, aber eine Taverne war dabei. So bekamen wir auch etwas zu essen. Die Frage nach einem Boot oder Schiff nach Chóra Sfakíon beantwortete der Wirt zuerst nur mit einem Achselzucken … Weiteres Nachfragen ergab, dass es um diese Jahreszeit kein regelmäßig verkehrendes Boot gäbe.

Da wir uns darüber klar waren, dass wir den umgekehrten Weg durch die Schlucht wegen der Wassermassen wohl nicht schaffen würden, schauten wir wohl so unglücklich drein, dass der Wirt sich erweichen ließ und zum Telefon griff.
Dann erklärte er uns, am nächsten Morgen werde ein befreundeter Fischer mit seinem Boot aus Chóra Sfakíon kommen und uns abholen. Wir waren ihm dankbar und verzehrten an diesem Abend noch so einiges.

Der nächste Morgen war recht stürmisch. Als wir am Strand aus den Schlafsäcken lugten, waren wir mehr als skeptisch, ob das Fischerboot wirklich kommen würde. Doch es kam tatsächlich. Als wir es erblickten, bekamen wir doch ein wenig Bammel. Denn es war ein ganz kleines Boot. Die Bordwand lag nur unwesentlich höher als das Wasser ringsum.

Dennoch gelang es uns irgendwie, an Bord zu kommen und dicht unter Land heil und gesund Chóra Sfakíon zu erreichen. Der Fischer verlangte eine recht kommode Summe für die Fahrt, wie so oft waren wir sehr positiv überrascht.

Nun waren wir also in Chóra Sfakíon und wollten wie besprochen von hier aus nach Chaniá per Anhalter zurück fahren. Wie schon drei Jahre zuvor in Sardinien waren die Rollen schnell und klar verteilt: Da ich als der sprachgewandteste galt, würde ich alleine mein Glück versuchen und überließ den beiden anderen den Platz an der Straße, während ich gemütlich in dem Pinienhain hinter ihnen saß. Aus Sardinien waren wir gewöhnt, dass zwar wenig Autos vorbeikamen, das erste einen aber gewöhnlich mitnahm. Auf Kreta war das aber anders: Die beiden brauchten einige Stunden, bis sie endlich eine Mitfahrgelegenheit gefunden hatten.

Ich schaute ihnen nach und stellte mich dann selbst an die Straße …