Kreta 1973 – wieder auf Tour

Wieder einmal standen die Semesterferien vor der Tür und mir stellte sich die inzwischen fast schon obligatorische Frage: „Mit wem mache ich denn in diesem Jahr Kreta unsicher?“

Und wie der Zufall es wollte, traf ich zwei alte Freunde, mit denen ich im Jahre 1970 schon auf Sardinien gewesen war (auch aus diesem Jahr könnte ich Einiges berichten, aber ich will nicht zu sehr von Kreta abschweifen – vielleicht mache das mal irgendwann, wenn mir der Kreta-Stoff ausgeht): Jorgo (der natürlich nicht wirklich so hieß, sondern ein Deutscher aus Bonn war) und sein jüngerer Freund Jü.
Da wir uns schon geraume Zeit nicht mehr begegnet waren, setzten wir uns in die nächste Kneipe. Natürlich gedachten wir gemeinsam der wunderschönen Fahrt nach Sardinien – sie war wirklich super, abenteuerlich und fast Kreta-like – und dann kamen wir auf den diesjährigen Sommer zu sprechen … als wir uns drei Stunden später trennten, war der Plan festgezurrt: In diesem Jahr würden drei zusammen nach Kreta fahren.

Diesmal gibt es nichts Nennenswertes über die Anreise zu berichten. Jorgo war stolzer Besitzer eines VW-Busses, wir beide wechselten uns beim Fahren ab (das hatten wir 1970 schon gemacht, obwohl ich erst ein paar Monate später bei der Bundeswehr den Führerschein erwarb).

Zu erwähnen ist, dass ich damals eine alte Schaffnertasche besaß, die mich eigentlich auf Schritt und Tritt begleitete … auch auf dieser Fahrt. Da ich der „Griechenlanderfahrendste“ von uns war, hatte ich die Gruppenkasse übernommen und trug in ebendieser Tasche praktisch unsere gesamte Barschaft herum – es waren, als wir in Griechenland ankamen, sicher über 3.000 DM in den verschiedensten Währungen, in erster Linie aber noch der guten alten deutschen Mark.

Wir kehrten zwischen Thessaloníki und Kateríni zum ersten Mal in Griechenland ein, um etwas zu trinken. Es war eine Fernfahrerkneipe, deren Parkplatz nur wenig größer war als die riesige Terrasse direkt an der Nationalstraße. Die Terrasse war ziemlich voll (der Parkplatz auch).
Nachdem wir in aller Ruhe unsere Frappedes ausgetrunken hatten, bestellte ich noch drei und zahlte bei der Gelegenheit alles direkt. Es war spottbillig, denn es war wie gesagt eine Fernfahrerkneipe, in die sich Touristen selten verirren – und abgesehen davon gab es ja auch noch nicht so viele …

Etwa eine halbe Stunde später brachen wir auf und fuhren etwa 100 Kilometer weiter bis zu meinem beliebten Etappenziel Litóchoro. „Meine Wiese“ gab es nicht mehr, hier standen inzwischen mehrere Häuser, zum Teil fertig, zum Teil noch als Rohbau. Natürlich war ich enttäuscht, aber dann fuhren wir ein kleines Stück zurück, denn dort war (und ist wohl noch) der Bahnhof von Litóchoro (etwa drei Kilometer vom Dorf entfernt), dort war sicher auch ein Strand.

Natürlich war da einer und wir spülten uns den Staub und Schweiß der Fahrt im agäischen Meer vom Leib. Dann beschlossen wir, dem Kaffee von vor zwei Stunden einen etwas handfesteren Schluck folgen zu lassen, bevor wir nach Litóchoro hinauffuhren, um dort in den obligaten Souvlaki zu frönen und hinterher das Lokal mit den Wasserrädchen und Glöckchen aufzusuchen. Erst morgen früh sollte es dann schnurstracks nach Piräus und zur Fähre nach Kreta gehen.

Wir kleideten uns also wieder geziemend an. Ich übernahm das Lenkrad, denn ich kannte ja den Weg und fragte Jü, der hinten saß, über die Schulter: „Kannst du mir mal die Tasche nach vorne geben?“
Er schaute um sich und fragte dann zurück: „Welche Tasche, hier liegt nichts?“
„Na, meine Schaffnertasche mit unserer Kasse, wir wollen doch was trinken gehen … schau noch mal genau nach!“
„Hier ist die Tasche nicht!“
Mich erfasste so etwas wie Panik. Wo war die Tasche? Wir durchwühlten also den ganzen Bus, was eine Weile dauerte, denn wir hatten einiges an Gepäck dabei … doch die Tasche war verschwunden.
Ich erinnerte mich an einen Satz, den meine Mutter gerne verwendete: „Du musst mit dem Kopf suchen, nicht mit den Händen!“
Also versuchte ich genau dieses. Wann und wo hatte ich die Tasche zum letzten Mal bewusst gesehen? Da kam nur das Fernfahrerlokal in Frage, denn ich hatte dort bezahlt. Hatte ich sie danach noch einmal gesehen? Ich kam zu dem Ergebnis, dass nein …

So ein verdammter Mist, ich hatte offensichtlich unsere gesamte Barschaft auf der Terrasse eines Fernfahrerlokals einhundert Kilometer entfernt von hier hängen gelassen. Das war eine Katastrophe, wie ich sie mir in diesem Moment nicht hätte größer vorstellen können. Wir waren in Griechenland und verfügten in unseren Taschen gemeinsam gerade mal noch über etwa 50 Mark! Damit würden wir gerade mal bis Athen kommen, um uns dort vielleicht bei der deutschen Botschaft das Benzingeld für die Rückfahrt zu pumpen. Das konnte und durfte doch nicht wahr sein!

Ich erwartete schlimmste Vorwürfe von Jorgo und Jü, doch zu meinem großen Erstaunen blieben die völlig aus. Sie waren nur ebenso geschockt wie ich, dass diese Fahrt zu Ende sein sollte, bevor sie richtig begonnen hatte. Was tun?
„Egal, selbst, wenn es alles weg ist, wir müssen zumindest nachschauen und nachfragen … also zurück!“
Jorgo gab zu bedenken, dass die Tasche nicht in irgendeinem Bergdorf vergessen worden war, sondern an einer recht stark befahrenen Straße, und dass jeder, der am Tisch vorbeiging, nur hätte zugreifen brauchen. Auch der Kellner … wir hätten keinerlei Chance gehabt, auch nur das Geringste zu beweisen.
„Egal wie, wenn wir es nicht wenigstens versuchen und zurück fahren, ist die Kohle auf jeden Fall weg … und übrigens auch mein Pass und mein Führerschein!“
Ja, verdammt, meine ganze Identität war in dieser Tasche. Ich war nass vor Schweiß, als ich die hundert Kilometer zurück fuhr, nein zurück raste, mit allem, was der Bulli so hergab. Es kam zwar jetzt auch nicht mehr auf die Minute an, und es wäre sehr peinlich geworden, wenn ich jetzt der Polizei aufgefallen wäre, aber das war mir egal. Diese Ungewissheit (oder Gewissheit, dass wir nur wieder nach Hause fahren konnten – falls uns die Botschaft überhaupt Geld vorschießen würde …) brachte mich um den Verstand. Ich fühlte mich wie ein Volltrottel in Vollendung.

Mit quietschenden Reifen brachte ich den Bulli vor dem Lokal zum Stehen. Wir rannten hinein, ich war immer noch völlig aufgelöst. Hinter dem Tresen standen zwei Kellner, einer wandte uns den Rücken zu. Dann drehte er sich um und sah uns heranhasten. Ein feines Lächeln überzog sein Gesicht, er griff ganz langsam unter den Tresen. Als er seine Hand wieder hob, hielt er darin meine Tasche.
Mir wurde fast schwarz vor Augen, als er lächelnd zu mir sagte: „You forgot this!“

Ich hätte ihn knutschen können. Aber ich war so fertig, dass ich kaum ein vernünftiges Wort herausbrachte. Er schien mein psychisches Desaster zu bemerken, denn er goss mir ein großes Glas Kognak ein.
„It’s from me. I think you need it!“
Ich stürzte den Schnaps hinunter und fing mich allmählich wieder. Dann kramte ich in der Tasche, um ihm eine Belohnung zu geben, denn die hatte er sich verdient. Doch er wehrte ab.
„No money, you come to Greece, you are welcome. You love Greece and we love you.“

Das Einzige, was er annahm, war eine Zigarette. Ich glaube, als ich die mit ihm rauchte, war es die schönste Zigarette meines Lebens. Dieser Mann hatte uns gerettet. Ich war nicht nur dankbar, sondern ich empfand die allergrößte Hochachtung vor dieser griechischen Ehrlichkeit, die damals wirklich noch selbstverständlich war. Und doch war sie für mich in diesem Moment und an diesem Ort einfach unfassbar. Ich wusste genau, dass ich das Geld in der Tasche nicht nachzählen musste, es würde kein Pfennig fehlen (und es fehlte natürlich auch keiner).
Nach viel Hin und Her ließ er sich breit schlagen, einen Kognak auf meine Kosten mit mir zu trinken. Jorgo hatte sich die ganze Zeit vollkommen zurück gehalten und übernahm dann das Lenkrad, als wir wieder zurück gen Süden fuhren.

Nach den Souvlaki bei meinem nun schon alten Bekannten in Litóchoro, der sich wie immer freute, fuhren wir in das Bimmellokal oben am Berg hinauf (siehe Kreta 1972). Bevor wir uns aber dem Weine widmeten, wollten wir erst einmal herausbekommen, wo denn das ganze Wasser eigentlich herkam, das hier so spendabel durch das Lokal floss. Hinter dem Haus stürzte es von der Wand. Wir kletterten hinauf und entdeckten, dass es aus einer Art begehbarer Wasserleitung kam. Ein abgedeckter Kanal zog sich an der Hangseite entlang, die scheinbar in den Olymp hineinführte. Wir folgten ihm – man konnte ja darauf entlang laufen – bis weit in den Einschnitt des Berges hinein. Ein Zaun, an dem ein für uns unlesbares Schild stand, bremste uns nur vorübergehend, wir kletterten einfach darüber. Kurz hinter diesem Zaun endete der Kanal und wir standen vor einem kleinen glasklaren See oder Tümpel, der uns förmlich aufforderte, die Füße hineinzustecken. Das taten wir auch.
Erst etwas später entdeckten wir ein zweites Schild und bekamen ein wirklich schlechtes Gewissen:
„This water is for drinking. Please do not make it dirty!“
Wir hatten unsere Füße ins Trinkwasserreservoir von Litochoro getunkt, hoffentlich hat es keiner geschmeckt!

Der Wirt des Lokals erkannte mich übrigens ohne die Mädels vom letzten Jahr nicht wieder, was ich verstehen konnte, aber das war mir ziemlich egal … denn sein Salat war immer noch sehr schmackhaft.