Monatskarte

Monatskarte

Allmählich ging ihm dieses Leben auf den Geist! Jeder Tag war wie der vorhergehende, und der nächste würde sicherlich auch nicht viel anders sein: gleichförmiges Rollen, nur ab und zu unterbrochen durch eine blecherne Stimme aus einem Lautsprecher. Jedesmal musste er dann sein kleines Zimmer verlassen, bis das Rollen wieder begann und er zu seinem Buch zurückkehren konnte, mit dem er die Zeit zubrachte, bis ihn wieder eine dieser Lautsprecherstimmen von seinem gemütlichen Plätzchen vertrieb.
Damals hatte er die Idee eigentlich nicht schlecht gefunden. Er war sehr plötzlich darauf gekommen, nachdem er sich wieder einmal völlig umsonst in diese Traube aus Menschenleibern gedrängt hatte, dem Ersticken nahe, von hinten geschoben, von vorne „drängel doch nicht so, du Arschloch“. Er hatte zwar wie immer seinen „Kölner Stadtanzeiger“ mit den Wohnungsanzeigen bekommen, aber wie immer viel zu spät. Viele Autos waren zwischenzeitlich mit quietschenden Reifen gestartet, die nahen Telefonzellen alle längst besetzt. Wie immer hatten andere das Rennen gemacht, während er fast platt gedrückt worden war.

„Ich muss mir etwas einfallen lassen“, hatte er hinterher überlegt, nach dem dritten oder vierten Kölsch, verzweifelt wie viele andere, die wie er wieder einmal umsonst gekämpft hatten.
Und dann fiel ihm tatsächlich etwas ein, als er später auf einer Plakatwand ein paar fröhliche Gesichter sah, die ihm zuzurufen schienen: „Warum streitest du dich zweimal in der Woche um eine Zeitung, um eine Wohnung? Du kannst es einfacher haben. Komm zu uns, dann hast du keine Probleme mehr.“ Das überzeugte ihn. Am nächsten Tag ging er kurz entschlossen zum Hauptbahnhof und kaufte sich eine Nahverkehrsmonatskarte, zweiter Klasse natürlich.
Seit jenem Tag wohnte er auf der Toilette des dritten Wagens von vorne, zweiter Klasse natürlich, in dem Zug, der täglich acht Mal von Köln nach Castrop-Rauxel und zurück fuhr. Die Idee war eigentlich wirklich nicht schlecht gewesen. Er vermisste die Dienstag- und Freitagabende nicht, an denen er sich in der Amsterdamer Straße um die Zeitungen mit den Wohnungsanzeigen gerangelt hatte. Denn er hatte jetzt ein Zuhause. Klein, aber sein! Und die Monatskarte war auch nicht so teuer.

Als er sein Bücherregal aufhänge wollte, waren die ersten Probleme aufgetaucht. Sein Zuhause war wirklich klein. Schließlich fand er aber doch noch ein Plätzchen hinter der Tür, die zwar jetzt nur noch halb zu öffnen war, aber er gewöhnte sich daran, stets einen Fuß als Stopper bereit zu halten, nachdem ihm stürmische Mitreisende drei Mal seine Bibliothek auf den Boden geworfen hatten.
So sehr störte ihn die Enge nicht. Er genoss einfach all die Vorteile, die so ein Leben mit sich brachte. Er brauchte zum Beispiel nie mehr auf die Toilette zu gehen, da er ständig darauf saß. Wirklich störten ihn nur all die Lautsprecherstimmen, eigentlich menschliche Stimmen, die nur dadurch unmenschlich wurden, weil er ihretwegen ständig seine Lektüre oder seinen Schlaf unterbrechen musste. Auf Bahnhöfen durfte man schließlich nicht auf der Toilette bleiben, und ein Nahverkehrszug im dichtbesiedelten Ruhrgebiet hält wirklich fast an jeder Kohlenhalde.
Und ihn störten natürlich auch die Mitreisenden, die immer wieder impertinent ausgerechnet auf seine Toilette wollten. Gab es denn nicht in jedem Wagen eine, kam es auf die paar Meter an? Nein, sie wollten und mussten unbedingt auf die seine.

Dann und wann fiel allerdings auch für ihn dabei etwas ab. Es war doch eine gute Idee von ihm gewesen, eine weiße Jacke zu tragen und ein kleines Tellerchen innen neben der Tür aufzustellen. Immer dann, wenn er gestört wurde, versuchte er ungemein amtlich amtlich auszusehen, was ihm durchaus etwas einbrachte, groschenweise zwar, aber manchmal war das schon die halbe Miete bzw. Monatskarte.
Wenn man mal davon absah, dass er auf jedem Bahnhof von seiner Toilette herunter musste, weil er ihnen auf die Gleise hätte scheißen können, ging es ihm alles in allem nicht schlecht.
Sicher, am Anfang hatten ihn die Schaffner recht seltsam angesehen. Mit der Zeit aber hatten sie ihn als harmlos eingestuft und sich an ihn gewöhnt. Jetzt kontrollierten sie bloß noch an jedem Ersten, ob er sich auch wirklich eine neue Monatskarte gekauft hatte. Ansonsten ließen sie ihn ziemlich in Ruhe. Der Ältere der Beiden besuchte ihn dann und wann sogar auf einen Kaffee. Er hatte sich nämlich eine Kaffeemaschine zugelegt und eine Fußmatte vor der Tür: Tritt froh herein, aber dir vorher die Füße ab! So saß er da, stand jede Viertelstunde einmal auf, weil ihn einer der verdammten Lautsprecher auf den Gang jagte, die Zeit lief weiter wie die rollenden Räder. Er war nicht unglücklicher und nicht glücklicher als nötig.

Doch dann kam jener Tag: Der Zug hatte gerade Duisburg verlassen, er hatte es sich wieder auf der Brille gemütlich gemacht, da klopfte es an die Tür! Er reagierte nicht. Sollte der Dummkopf doch in den nächsten Wagen gehen. Er brauchte derzeit kein Geld, und die Viertelstunde, die ihm die Lautsprecherstimmen einräumten, wollte er jetzt seine Ruhe haben. Er würde das Feld nicht räumen. Es klopfte wieder, kräftiger diesmal. Unwillig schaute er von seinem Buch auf.
„Besetzt!“ Er brüllte es so unfreundlich wie möglich!
„Hier ist besetzt, sehen Sie das nicht?“
„Fahrkartenkontrolle – Ihren Fahrausweis bitte!“
Er traute seinen Ohren nicht. Zum einen war heute irgendein Tag mitten im Monat, seine Monatskarte hatten sie längst gesehen, die beiden Schaffner, die ihn kannten und die er kannte. Was sollte das also? Zum anderen … es war eine Frauenstimme!
„Hören Sie nicht da drin?“ Ungeduldig klang es von draußen. „Ihren Fahrausweis bitte!“
Nun gut, da konnte man nichts machen. Außerdem wollte er es jetzt wissen. Er öffnete die Tür. Draußen stand sie und sah aus wie ein Schaffner. Allerdings hatte er so einen Schaffner noch nie gesehen. Ein kleines blaues Käppi auf den kurzgeschnittenen Haaren, eine blaue Jacke, ein dunkler Rock, ein dickes Buch unter dem Arm. Er war vollkommen fasziniert.
„Ihren Fahrausweis bitte,“ hörte er nun zum dritten Mal. Er konnte den Blick nicht von ihren Beinen wenden und kramte zerstreut in den Taschen, zeigte ihr nach und nach alles, was er bei sich hatte, bis endlich auch die Fahrkarte dabei war. Sie betrachtete sie hoheitsvoll und gab sie ihm zurück, wobei sie jetzt etwas freundlicher schaute. Und dann war sie ebenso plötzlich verschwunden, wie sie in sein Leben getreten war.

Hatte er ihre Anwesenheit nur geträumt? War sie wirklich da gewesen oder bildete er sich das nur ein? Warum aber hatte er all seine Papiere und die Monatskarte in der Hand?
Als ihn später in Oberhausen wieder einer der Lautsprecher von seiner Brille jagte, lief er durch die angrenzenden Wagen, fand aber keine Spur von ihr.
„War wohl doch nur Einbildung!“ Er zog sich in die Geborgenheit seiner vier Wände zurück, während die Räder ihr Rollen wieder aufnahmen. Grübelnd überhörte er die beiden nächsten Lautsprecherstimmen, was ihm sonst nicht einmal im Tiefschlaf passierte. So blieb er frevlerisch auf beiden Bahnhöfen auf seiner Brille sitzen. Später betätigte er aus lauter Gewohnheit die Spülung, und dieses altvertraute Geräusch brachte ihn in die Gegenwart zurück. Das Wasser gurgelte schwerfällig durch das Rohr, klatschte in den Topf, und fiel dann unwiederbringlich durch das Loch im Boden zwischen die stählernen Geleise, ganz den Gesetzen der Schwerkraft und dem der Eisenbahntoiletten folgend. Er hatte sich bestimmt, geirrt, SIE nur geträumt. Seine Wirklichkeit war hier, vier enge Wände auf Rädern, in der Mitte sein Thron. Sein kleines Reich.

Er hatte sich gerade wieder gesetzt, als es erneut klopfte. Verdammt, dachte er, das kann doch wohl nicht wahr sein. Dennoch entschloss er sich, die Tür zu öffnen. Er fand sich damit ab, dass es wieder mal ein Mitreisender so dringend nötig hatte, dass er es nicht bis zum nächsten Wagen schaffte. Während er sich erhob, stand vor seinem inneren Auge ein korpulenter Geschäftsreisender, der draußen von einem Bein auf das andere hüpfte, die Hände zwischen die runden Schenkel geklemmt und mit schon hervorquellenden Augen.
Er öffnete.
Der Geschäftsreisende sah nicht im Geringsten so aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Es war auch kein solcher, es war wieder SIE.
„Schon wieder Sie?“
Hatte er das gesagt. Nein, sie war es gewesen, die jetzt – Spott in der Stimme? – hinzufügte: „Oder immer noch Sie?“
Diesmal fasste er sich schneller.
„Natürlich ‚immer noch‘ … ich wohne schließlich hier!“
Jetzt schien sie für einen Moment sprachlos. Ihr Blick glitt durch den Türspalt, blieb auf Kaffeemaschine und Radio hängen, und wanderte dann weiter zu den blassblauen Vorhängen, die das Milchglasfenster verschönten.
„Und hübsch haben Sie es hier!“
Diesmal war der Spott in ihrere Stimme nicht zu überhören. Na sicher, was wusste sie schon! Beamtin, Dienstwohnung, Mann und Kinder, eine gute Pension in Aussicht, was konnte die schon wissen? Er betrachtete ihr Gesicht genauer und strich sofort Mann und Kinder wieder aus seinen Gedanken, dafür sah sie zu jung aus. Oder lag das an dem spöttischen Lächeln unter ihrer Stupsnase?
Leichthin erwiderte er: „Tja, man tut, was man kann.“
Das war offensichtlich schon wieder falsch, denn ihr Miene wurde wieder sehr amtlich.
„So, Sie wohnen also hier! Weiß man das?“
„Wer ist ‚man‘?“
„Die Bahn.“
Die weiß es, dachte er, die muss es doch wissen. Die hatte sich doch die verfluchten Lautsprecherstimmen ganz allein für ihn ausgedacht. Wie bestellt wurde der Zug langsamer, er trat auf den Gang hinaus und schloss die Tür hinter sich.
„Ich weiß schon … auf Bahnhöfen …“
Aber sie hatte plötzlich das Interesse an ihm verloren und wirkte sehr geschäftig. Der Zug war noch nicht ganz zum Stehen gekommen, als sie schon draußen auf dem Bahnsteig war. Er hatte nicht darauf geachtet, ob das nun Gelsenkirchen oder Herne war.

Er zuckte die Achseln.
„Weiß man das?“
Der Zug ruckte wieder an und sie war wieder da.
„Sie wohnen also hier. Entzückend!“
Sie lächelte wieder und dies hörte er förmlich dieses Lächeln. Nein, es kam ihm wie ein schallendes Gelächter vor, als sie sich umdrehte, ohne ein weiteres Wort den Gang hinunter ging, das Schaukeln des Zuges geschickt mit dem Hintern ausgleichend. Er schaute fasziniert hinterher, vor allen Dingen auf den Hintern, der ihr diesen sicheren Halt verschaffte, bis er ihn nicht mehr sehen konnte. Sie verschwand in der ersten Klasse.
Als er wieder auf seiner Brille saß, stellte er sich vor, sie könnte jetzt bei ihm sein. Hier auf seiner Brille, ohne die Uniform, ganz Frau statt Beamtin, wie schön hätte das werden können. Aber er hatte es verpatzt. Warum hatte er sie nicht ganz einfach auf einen Kaffee eingeladen? Andererseits, zu zweit in diesem seinen Appartement? Er schaute sich um, zum ersten Mal fiel ihm die Enge auf, und zum ersten Mal störte sie ihn wirklich. In ihm reifte der Entschluss, sich etwas Größeres zu suchen!
Er stieg in Castrop-Rauxel aus und ging auf die Bahnhofstoilette. Hier hatte er viel Platz. Ein paar Männer schauten ihn sehr erstaunt an, als er sein Bücherregal aufhängte. Sollten sie doch, wenn es ihnen Spaß machte.

Er würde sich jedenfalls nie wieder eine Monatskarte kaufen!