Von Reinhilde Digruber
Sonntag, 11. Juli 2004, im Hafen von Iraklio. Geplant ist ein Ausflug nach Ano Asites. Wie üblich werde ich am Busbahnhof in Empfang genommen. Zu meiner großen Freude wird Manolis, ein Freund aus Asites, von Onkel Nikos begleitet, der sich, wie man so schön sagt, „alle heiligen Zeiten einmal“ in die große Stadt begibt. Onkel Nikos, wie immer in voller Tracht, mit Sariki, Pluderhose, Stiefel, ein wettergegerbtes, offenes, gutes Gesicht mit klaren Augen, die so viel erlebt haben und wissend, aber so manches Mal auch spitzbübisch verschmitzt blicken, und einem wunderbaren, weißen, weichen Vollbart.
Wir genießen im Hafencafe unsere Frappedes, beobachten eine entzückende Entenprozession, besprechen ausgiebig „ta nea mas“, schließlich und endlich sind seit dem letzten Beisammensein doch schon wieder zwei Monate ins Land gezogen. Onkel Nikos wird indessen von einigen Touristen aufmerksam „begutachtet“ – es macht ihm Spaß und er lässt sich oft und gerne fotografieren.
Als wir dann Richtung Asites aufbrechen wollen, marschiert Onkel Nikos zielstrebig auf einen Baum neben der vielbefahrenen Hafenstrasse zu – er hat ein menschliches Bedürfnis zu erledigen. Manolis muss einiges an Überredungskunst an den Tag legen, um den Onkel davon zu überzeugen, dieses eine Mal – wenn auch widerstrebend – doch die Sanitäranlagen des Cafes zu benutzen. Manolis versucht dann, mir gegenüber das (für mich überhaupt nicht schlimme) Verhalten des Onkels zu erklären, merkt aber sehr schnell, dass ich mit dieser Situation absolut kein Problem habe, diese mir im Gegenteil wie ein Puzzlestein zum Vervollständigen meines ureigensten, gemütvoll-romantischen Kretabildes in den Schoß gefallen ist.
Wir machen sodann Besuch bei Verwandten und Bekannten in Krousonas, verweilen anschließend ein Stündchen im wunderschönen Kloster Agia Irini und werden nach Stunden von Manolis Frau telefonisch an den fast schon fertig gedeckten Tisch in „Asites“ heim beordert. Ich unterdrücke auf der Fahrt dorthin vielfach den Wunsch nach einem kurzen Halt für eine Fotopause, weil ich weiß, dass dies nicht mein letzter Besuch in dieser Gegend sein wird. Der unvermittelte Ausblick auf einen riesigen Felsendurchbruch mit Rhododendronbewuchs, der sich wie eine rote Schlange durch den Talkessel windet, veranlasst mich zu einem spontanen, überraschten Aufschrei und der Bitte, doch jetzt und sofort und gleich stehen zu bleiben. Ich springe aus dem Auto, genieße den Anblick und mache mich dann daran, die Kamera in Betrieb zu setzen. Als ich wieder ins Auto einsteige, kommt eine warme, riesige Welle von Heiterkeit auf mich zu – Manolis kann die Lachtränen in seinen Augenwinkeln nicht verleugnen -, deren Ursprung in Onkel Nikos sich beschwerendem Ausruf lag:
„Und die Hilda, warum darf SIE mitten in der Kurve ……?!?!?!“
Von Reinhilde Digruber