Vanity lag im Schatten unter den ausladenden Ästen eines großen Salzbaumes. Die Luft roch nach Seetang und Kokosmilch. Nach dem anstrengenden Genuss zweier Kirschlollys war sie schläfrig geworden. Unter der frühen Herbstsonne hatte ihre Haut eine gesunde Bräune angenommen. Ein gelber Schmetterling landete auf ihrem Oberschenkel. Mit zitterndem Flügelschlag. Angelockt von Kokosduft. Vanity lächelte. Sie träumte. Von Amerika und Doktor Martin, dem Psychiater, Spezialist auf dem Gebiet der Zwangsneurosen. Der Schmetterling wanderte höher, erhob sich kurz in die Luft und ließ sich erneut nieder. Das kräftige Gelb seiner Flügel bildete einen scharfen Kontrast zum Bikinihöschen, zu den Farben der amerikanischen Flagge. Vanity war kitzelig. Sie bewegte sich. Ihre Hand fuhr hinunter auf das winzige Bikinidreieck, suchte nach der Ursache. Schläfrig und nachlässig. Der Schmetterling blieb sitzen.
Hermes hatte Sonnenbrand. Das war ihm neu. Seine Haut war an Schatten gewöhnt. An Schatten und Ausdehnung. Hermes litt. Versteckt hinter einem Steinwall. In Vanitys Nähe. Steine bohrten sich in sein weiches Fleisch. Einige blieben kleben, auf der Hinterseite seiner massigen Oberschenkel. Hermes griff nach der Sonnenmilch.
Die Flasche war fast leer. Er brauchte fast alles für den Bauch, die vielen Fettrollen, die nun rot waren. Sie schmerzten bei jeder Berührung.
Gierig sogen sie die weiße Milch auf. Hermes hatte wunde Stellen. Zwischen den Wülsten, in den Falten, wo sich der Schweiß sammelte. Neben der Sonnenmilch lag das Fernglas. Ein Feldstecher aus Deutschland. Der beste, wie die Leute behaupteten. Zur Zeit der deutschen Besatzung war er seinem Großvater in die Hände gefallen. Bei einer Schlacht in den Bergen, aus der die Partisanen siegreich hervorgegangen waren. Der Feldstecher war Großvaters einziger Stolz. Er hatte keinen Grund, auf etwas anderes stolz zu sein.
Großvater verachtete Hermes, den fetten Nichtsnutz. Ihm fehlte das Herz eines Partisanen. Hermes war das gleich. Wichtig war, dass der Feldstecher seine Aufgabe erfüllte. Hermes führte seinen eigenen Krieg. Eine Schlacht gegen die Konkurrenz und die Sonne. Dafür brauchte er zwei Dinge: Sonnenmilch und Kirschkondome. Eine der roten Latexhüllen trug er gerade jetzt. Unter seiner blauen Badehose, über verschrumpelter Haut. Für eine richtige Erektion war es zu heiß. Außerdem schmerzte sein Bauch. Aber Hermes wollte bereit sein. Wenn die Fremde ihn ranließ, wollte er sie überraschen. Mit Kirschgeschmack. Hermes blickte durch das Fernglas. Er stellte die Schärfe ein. Eifersucht überkam ihn. Wut auf einen Schmetterling mit gelben Flügeln. Es war zehn nach zwölf, Ende September. Hermes litt. Die Thermometer in Tambiki stiegen auf 35°C.
Maria riß sich den roten Kamm aus den Haaren. Schwarze leblose Strähnen fielen schlaff auf hagere Schultern. An einigen Stellen bereits grau. Das frühzeitige Grau von zuviel Kummer, zuviel Rollstuhl. Maria war wütend. Perikles sprach nur noch von Vanity, dem amerikanischen Flittchen. Seiner verlorenen Liebe ähnele sie, sagte er. Sollte er sich doch von ihr schieben lassen. Maria stand vor dem Spiegel. Zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte sie eine Haarsträhne. Das half ihr beim Nachdenken. Die Fremde musste wieder fort. Daran gab es nichts zu rütteln. Nur das „wie“ war ihr noch nicht klar. Maria taxierte ihr Spiegelbild. Sie hob den Daumen zum Mund, umschloss ihn mit dünnen Lippen. Speichel benetzte das Nagelbett. Die Haut über der Oberlippe kräuselte sich, formte zahlreiche Fältchen. Noch lange, nachdem ihr die Lösung eingefallen war, saugte Maria an ihrem Daumen.
Am späten Nachmittag kam Wind auf. Nordwind. Schonungslos blies er über die glatte Meeresoberfläche, rauhte sie auf, formte erste Schaumkronen.
Nikos hatte ein Problem. Genau genommen wusste er noch nichts davon. Denn er war eingeschlafen auf seiner Luftmatratze. Seit Wochen schon fuhr er nicht mehr zum Fischen hinaus. Sein Boot lag vertäut im Hafen wie das der anderen Fischer, seit Vanity in Tambiki war. Nikos hatte eine andere Vorliebe für das Wasser entdeckt. Neuerdings planschte er nicht nur in der häuslichen Badewanne, sondern auch an Tambikis Küste. Regelmäßig und in Sichtweite des alten Salzbaumes mit den ausladenden Ästen. Heute hatte er Hermes entdeckt. Versteckt hinter einem Steinwall. Auf dem Rücken, zappelnd wie ein fetter Käfig, war er dagelegen.
Kurz glaubte Nikos auch, das Rad eines Rollstuhl gesehen zu haben. Gleich hinter dem Stamm des Baumes, unter dem Vanity schlief. In ihrem göttlichen Bikini. Irgendetwas hatte auf ihrem Venushügel gesessen. Doch was es war, konnte Nikos nicht erkennen. Dazu war er zu weit entfernt. Überhaupt war er sehr weit von Tambikis Küste entfernt, jetzt, wo die Luftmatratze ihn auf das offene Meer hinaustrieb. Nikos hatte zwei Probleme, von denen er noch nichts wusste. Das eine war die Sache mit der Luftmatratze, das andere war die Fruchtblase seiner Frau, die gerade platzte und an ihren Oberschenkeln hinunterlief. Katharina geriet in Panik. Sie rief nach Nikos. Doch dort, wo er sich gerade befand, konnte ihn kein Ruf mehr erreichen.
Perikles schämte sich. Nicht nur sein Lebenswille war gebrochen, auch sein restlicher Stolz war dahin. Was hatte er sich nur bei der ganzen Sache gedacht? Sein Plan schien so perfekt. Noch einmal wollte er in den Armen einer schönen Frau liegen. Im Schoß dieser Fremden wollte er sein kümmerliches Leben vergessen, ein letztes Mal, bevor er es tatsächlich beendete. Als Maria das Haus verließ, war er aufgebrochen. Unbemerkt von neugierigen Nachbarn und beflügelt von neuem Mut war er zum Strand gerollt. In der schwitzenden Hand ein dickes Bündel nagelneuer Drachmenscheine. Er wollte für diese letzte Eroberung bezahlen. Bezahlen und sich an Christina erinnern. Seine schöne Christina.
Perikles fand Vanity schlafend vor. So leise es sein Rollstuhl zuließ, schob er sich an den alten Salzbaum heran. Lange saß er dort und beobachtete die außergewöhnliche Schönheit. Längst vergessene Lieder kamen ihm in den Sinn, süße Melodien überfluteten sein Herz, ließen es anschwellen. Erinnerungsfetzen ausgelebter Leidenschaften ließen ihn erschauern, brachen über ihn herein, hielten ihn umklammert.
Tränen rannen über sein Gesicht, tropften auf das Geld in seiner Hand, durchnässten es mit alter Schuld. Papier, dachte Perikles. Es ist nur ein Haufen nutzloses Papier. Ein Bündel Geld für einen verlorenen Traum. Die Scheine brannten in seiner zitternden Hand. Er ließ sie los. Der Wind nahm sich ihrer an und trug sie fort, in verschiedene Richtungen. Ein 10.000 Drachmenschein verfing sich in Vanitys Bikini. Zwischen ihren Brüsten. Sich der Ironie des Zwischenfalls bewußt, ergriff Perikles tiefes Entsetzen. Irgendjemand legte einen Schalter um. Mitten in seinem Kopf. Gott hatte Erbarmen und löschte das Licht. Jetzt sah er nur noch Christina, dort vorne unter dem Baum, besudelt von seinem Geld. Perikles ließ sich aus dem Rollstuhl gleiten. Er fiel auf die Knie. Auf weiße Kieselsteine. Er nahm die Schmerzen nicht wahr, rutschte vorwärts.
„Verzeih mir, Liebe“, flehte er, mit ausgestreckter Hand. Seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen. Er schob ein Knie vor das andere, tränenblind, bewegte sich auf Vanity zu, auf Christina, auf seine Vergangenheit. Da, plötzlich, umgriffen ihn starke Arme, hoben ihn auf, trugen ihn zurück.
Vanity war verwirrt. Warum kroch der weinende Mann auf sie zu? Und was hatte es mit dem vielen Geld auf sich, der fremden Währung, die rings um sie verstreut lag. Vanity entschied sich schnell. Sie sprang auf und half dem Mann zurück in den Rollstuhl. Das regelmäßige Fitnesstraining machte sich nun bezahlt. Vanity beschloss, noch mehr zu trainieren. Ihr tat der Mann leid. Nachdem sie ihn in den Rollstuhl gesetzt hatte, machte sie sich daran, das Geld einzusammeln. Aber er wollte es nicht. Sie brauchte es aber auch nicht. Also ließ sie es liegen, dort auf den weißen Steinen, als sie den Strand verließ. Ihr war nach einem Lolly. Vielleicht auch nach zwei.
Maria stemmte ihr Körpergewicht gegen das kleine Fenster. Es war nur angelehnt, doch es klemmte. Endlich, nach einer Weile gab es nach und schwang zurück. Maria stieg auf das Fensterbrett, schaute nervös zu den angrenzenden Häusern und sprang.
Vanitys Zimmer war bescheiden. Ein einfaches Bett neben einem nachlässig gezimmerten Kleiderschrank. Eine Lampe gab es nicht. Nur eine nackte Glühbirne ragte aus der gekalkten Decke. Maria war nervös. Sie musste sich beeilen. Hastig öffnete sie die Schranktür, kramte in Schubladen. Nichts. Sie bückte sich und schaute unter das Bett. Dort lag nur eine Reisetasche. Im Bad fand sie einen Wickelrock, rot und aus feiner Seide. Maria steckte ihn ein. Dann zog sie die Reisetasche unter dem Bett hervor. Der Reißverschluß klemmte. Ihr lief die Zeit davon.
Maria ging in die Küche, fand ein Messer und schnitt ein Loch in die Tasche. Dann zeriß sie den Stoff. Machte das Loch größer als notwendig, aus Wut. Unten auf dem Boden der Reisetasche fand Maria endlich, was sie suchte. Ein triumphierendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Bevor sie das Zimmer verließ, zerschnitt sie noch einige Kleidungsstücke.
Es war Donnerstag, viertel nach sieben, als Perikles den steilen Bergpfad hinauf rollte. Die Räder des schweren Rollstuhls gruben sich in den sandigen Untergrund, drehten durch. Perikles gab nicht auf. Gott hatte das Licht gelöscht und das war gut so. Das verlieh ihm Kraft. Oben wartete Christina. Das wusste Perikles. Deshalb schob er sich weiter, stetig hinauf, bis an die Spitze.
Als die Räder an Bodenkontakt verloren, kurz hinter dem Abgrund, und mit Perikles ins Leere stürzten, durchzuckte Christina ein stechender Schmerz. Direkt hinter der Stirn. Hinter ihrem Schreibtisch im fernen New York dachte sie an ihre Heimat, an Tambiki und Perikles.
Als Nikos von der Küstenwache aufgefischt wurde, gebar Katharina einen gesunden Jungen, rot und runzelig.
Vanity waren die Lollys ausgegangen. Sie konnte sich nicht erinnern, ihren ganzen Vorrat aufgebraucht zu haben. Langsam wurde sie nervös. Sie durchsuchte alle Taschen, öffnete und verschloss Reißverschlüsse, riss sämtliche Kleider aus dem Schrank. Die Zerschnittenen nahm sie kaum wahr. Sie hatte keinen einzigen Lolly mehr. Panik ergriff sie.
Spät in der Nacht tätigte Vanity ein Ferngespräch. Ins ferne Amerika. Sie sprach mit Dr. Martin, dem Psychologen.
Michalis beförderte einen Fahrgast. Seit dem Zwischenfall vor der Waschmaschine ließ ihm seine Frau keine Ruhe mehr. Immerzu war sie bereit, ständig verlangte sie nach Sex. Das Ehebett lehnte sie ab. Michalis grinste. Mittlerweile trieben sie es überall. Im Stall neben den Ziegen, im großen Weinbottich hinter dem Haus und sogar in seinem Taxi, hinten auf dem Rücksitz. Vanity hatte seiner Ehe gutgetan. Sein Schwanz war unersättlich, rot und wund. Michalis schaute in den Rückspiegel, auf die Fahrgastbank. Dorthin, wo er gestern gekommen war. Man konnte den Fleck nicht sehen. Der Touristenhintern verdeckte ihn. Michalis fragte sich, was ein Mann wie dieser in Tambiki zu suchen hatte. Er schien reich zu sein. Das verriet sein gepflegtes Äußeres, die wertvoll aussehende Uhr an dem gebräunten Handgelenk. Sein Fahrgast war attraktiv. Michalis verspürte keinen Neid. Er war vollkommen zufrieden. Zufrieden mit sich und seiner reghaften Libido.
Es war der erste Tag im Oktober. Der Wind hatte nachgelassen. Die Luft war feucht und schwül. Fischer saßen an den Tischen. Sie spielten Karten mit groben Gebärden. Mit fettigen Haaren und schmutziger Kleidung. Frauen eilten zwischen den Tischen hin und her, verteilten Speisen unter den Touristen. Kinder in leichten Shorts spielten Fußball auf dem Vorplatz der kleinen Dorfkirche. Ab und zu winkten sie Vanity und dem Fremden zu, der an ihrem Tisch saß. Vanity lachte und winkte zurück. Sie war glücklich. Dr. Martin hielt ihre Hand. Er war eigens aus Amerika gekommen, um ihr Lollys zu bringen. Kirschlollys, eingehüllt in buntem Papier.
Hermes aß Muscheln. Das T-Shirt bedeckte seinen Bauch nur zur Hälfte. Rot und wund quoll er unter der Baumwolle hervor, schmerzte, wenn er auf die massigen Oberschenkel aufstieß. Hermes besaß viel Geld. Er hatte es von Perikles geerbt. Das glaubten jedenfalls die anderen. Als Dr. Martin nach Tambiki gekommen war, hatte Hermes die Kirschkondome zurück in das Regal geräumt. Er brauchte auch keine Sonnenmilch mehr. Aber das Geld von Perikles trug er bei sich. Denn heute war ein Festtag. Heute würde er seine Freunde einladen. In die Bar mit den Freudenmädchen, den leichtbekleideten. Und er würde alles bezahlen. Er, Hermes, der Fettsack.
Maria trug Trauerkleidung. Sie arbeitete in der Küche. In Katharinas Taverne. Heute waren viele Gäste da. Roula trug die Teller hinaus an die Tische. Vanity und der fremde Arzt hatten Krebsfleisch bestellt. Der heutige Fang war gut gewesen. Maria füllte die Teller mit weißem Krebsfleisch. Das Essen brachte sie persönlich hinaus an den Tisch. Sie mochte Dr. Martin. Er war schließlich Arzt. Reich und angesehen. Das gab sie unumwunden zu. Auch vor den anderen Frauen, in der Küche, zwischen den Kochtöpfen. Auch Vanity war ihr ans Herz gewachsen. Seit sie in Begleitung war.
Es war der erste Tag im Oktober, kurz vor Mitternacht, als Hermes sich über die Brüste einer Barbedienung übergab. Zuviel Muscheln.
Von Elke Schroeder