Kreta 1975 – Teil 4

Auch die nächste Nacht war „Ruhenacht“ – Nikos pflegte wohl seinen Kater – aber am Nachmittag drauf tauchten sie alle vier wieder auf.
„Éla, Niko Kapetánie, páme!“
Alles verlief ganz normal, nur etwas wunderte mich (ich fragte aber nicht nach): wir nahmen Michalis‘ kleines Boot ins Schlepptau, bevor wir wieder Richtung auf die Paximádia ablegten. Wozu das gut sein sollte, wusste ich noch nicht.

Ungefähr eine Stunde später hatten wir unsere heutigen Fanggründe erreicht (ich habe übrigens niemals kapiert, nach welchen Kriterien das Nikos jedes Mal neu aussuchte) und legten wie üblich die Paragádia aus.
Nikos, Manolis und ich waren inzwischen schon ein eingespieltes Team, sodass die beiden anderen zuschauen durften.
Danach gab es erst einmal die obligatorische Zigarettenpause. Es war inzwischen völlig dunkel geworden. Michalis packte die Essensvorräte aus, während Nikos vorne am Bug eine sehr helle Lampe aufhängte, direkt über dem Wasserspiegel.

„Wir haben heute keinen Mond, das ist gut!“ stellte er zufrieden fest. Ganz begriff ich die Zusammenhänge noch nicht, warum wollte Nikos bloß mitten in der Nacht das Meer beleuchten?
Wir hockten uns auf dem Deck nieder, die Rakí-Flasche kreiste. Nikos reichte mir ein Stück Brot, es gab wie üblich auch Dosenfisch und ein großes Stück Kefalotyri. Während wir kauten, schaute dann und wann einer der anderen über Bord und meinte lakonisch: „Sie kommen schon!“

Und allmählich begriff ich, was vor sich ging: Mit der Lampe lockten sie Fische an! Da wir keine Netze an Bord hatten und das Paragádi weit mehr als einen Kilometer entfernt lag, konnte das nur eines heißen: Dynamit! Diese Gangster … Jetzt war ich schon so oft mit ihnen Fischen gefahren und bisher war immer alles ganz korrekt gelaufen. Zuerst wollte ich protestieren, beruhigte mein Gewissen dann aber damit, dass es zum einen sowieso nichts nützen würde und dass sie zum anderen wenigstens nicht direkt unter Land bomben wollten, sondern hier, wo das Meer mehrere hundert Meter tief war. Sie würden also nicht viel kaputt machen, außer den Fischen, die sie anlockten. Jetzt erkannte ich auch die zahllosen kleinen silbrigen Schatten, die um das Boot und die Lampe tanzten, es waren Sardinen.

Deshalb war also die Abwesenheit des Mondes so wichtig gewesen, er hätte mit seinem Schein die Fischlein nur von unserer Lampe abgelenkt. Während die anderen die Essensreste wegpackten, tauchte Manolis aus der Luke auf, ein graues Päckchen unter dem Arm. Während er das Bündel öffnete, wurde mir doch ein bisschen mulmig. Ich hatte schon mehrfach über Fischer gelesen, denen eine Hand oder mehr fehlte, weil sie im Umgang mit Dynamit zu sorglos gewesen waren. Einen davon hatte ich sogar selbst schon getroffen, auch wenn er nicht zugab, wer oder was seine rechte Hand auf dem Gewissen hatte. Manolis schien weniger Bedenken zu haben, vielleicht las er selten, jedenfalls drückte er noch nicht einmal seine Zigarette aus.

Er wickelte ein Stückchen Zündschnur ab und fummelte es in eine Zündkapsel. Das Kernstück seines Päckchens war dann eine graue unförmige Masse (du lieber Himmel, sie hatten die Zündkapseln zusammen mit dem Dynamit aufbewahrt und wir hatten die ganze Zeit darüber gesessen!). Mit dem Messer bohrte er ein Loch in die Dynamitmasse und versenkte gleichmütig die Zündkapsel darin. Er umwickelte das Päckchen mit reichlich Klebestreifen, dann packte er es in eine blaue Plastiktüte, nur das Zündschnurschwänzchen schaute noch heraus. Dann umwickelte er das Ganze mit Unmengen von Klebestreifen und Bindfaden und band noch zwei Steine mit ein, damit die „Spezialangel“ auch tief genug sinken würde. Ein Jahrhundertwerk für einen einzigen Bums!

Dann schien er zufrieden zu sein und die anderen wurden jetzt von Unruhe ergriffen. Ich auch, allerdings aus anderen Beweggründen. Lefteris und Michalis zogen das kleine, im Schlepp mitgeführte Boot näher ans Heck des Kaíki (aha, dafür hatten sie es mitgenommen!) und stiegen hinein. Nikos holte aus dem Inneren des Kaíki zwei Kescher, auch im Beiboot konnte ich jetzt einen liegen sehen. In der allgemeinen Hektik rief mir Nikos zu, ich solle jetzt ans Ruder gehen und auf seine Anweisungen achten. Das half mir über meinen immer noch ein wenig vorhandenen Widerstand hinweg, auch mich ergriff jetzt das Jagdfieber. Also nahm ich flugs meinen Platz ein, während Nikos den Diesel startete.

Manolis stand schon am Bug und hatte sich eine neue Zigarette entzündet. Auch der Außenborder des kleinen Bootes brummte auf, sie blieben aber noch hinter unserem Heck. Nikos holte nach einem letzten Blick schnell die Lampe am Bug ein, Manolis hielt die Zigarette an die Zündschnur, diese zischte auf und dann flog das Bündel mitten zwischen die silbrigen kleinen Leiber, platschte auf und versank schnell.

Zwei, drei Sekunden vergingen, ich dachte schon, jetzt sei es doch schief gegangen, da rumste es heftig vor uns. Eine hohe Wassersäule stieg vor dem Boot hoch, und während sie noch in sich zusammenfiel, heulte der kleine Außenborder hinter uns auf und das kleine Boot schoss schräg an uns vorbei. Nikos brüllte, ich sollte endlich mal voran machen, Manolis und er hatten schon jeder einen Kescher in der Hand und standen gebückt rechts und links am Bug des Kaíki. Ich trat mit dem Fuß gegen die altertümliche Kupplung, auch wir ruckten an, ich war viel zu nervös und hatte zu viel Gas gegeben.

Nikos brüllte ein paar unfeine Flüche in meine Richtung, ich fing mich und das Boot wieder. Dann sah auch ich, dass der gesamte Meeresspiegel um uns herum von Unmengen toter und betäubter Fische silbrig bedeckt war. Weisungsgemäß hielt ich mitten hinein und Nikos und Manolis schaufelten eilig die Fische an Bord. Langsam verstand ich auch, warum es so schnell gehen musste. Die meisten Fische waren ja nur betäubt und wir wollten sie an Bord haben, bevor sie wieder zu sich kamen und sich empfahlen. Jetzt wollte und musste auch ich mein Bestes geben! Ich ignorierte Nikos‘ Rufe völlig, wühlte im Getriebe und manövrierte das schwerfällige Boot auf kleinstem Raum immer wieder durch die silbrige Flut. Aus den Augenwinkeln sah ich dabei das kleine Boot immer wieder im Zickzack um uns herumflitzen, Nikos, Manolis und Lefteris (im kleinen Boot) schaufelten wie wild, hektische Rufe klangen immer wieder auf. Da aber keine Flüche mehr dabei waren, schien Nikos doch einigermaßen mit meinen Fahrkünsten zufrieden zu sein.

Nach einer halben Stunde war die Meeresoberfläche wieder dunkel. Was wir nicht an Bord hatten, war weggetaucht, aber vielen Fischen schien das nicht gelungen zu sein. Auf unserem Vorderdeck stapelte sich ein mehr als respektabler Haufen silbriger Leiber, auch Lefteris im kleinen Boot stand bis zu den Knien darin. Nikos winkte mir zu, die Jagd sei zu Ende und ich stellte den Motor ab. Das kleine Boot kam längsseits, auch der Außenborder erstarb, es wurde fast gespenstisch ruhig. Manolis reckte sich und ließ ein zufriedenes Grunzen hören, während Lefteris und Michalis schon damit begannen, die Fische eimerweise herüberzureichen.
Nikos schleppte Kisten herbei, wir schaufelten die Fische hinein und eine Viertelstunde später war auch das geschafft. Das kleine Boot wurde wieder am Heck vertäut, Nikos steckte sich eine Zigarette unter die Nase und verkündete zufrieden, es seien mindestens 90, wenn nicht gar 100 Kilo.

Ich muss zugeben, dass ich trotz aller Ressentiments gegen die Dynamitfischerei von seiner Zufriedenheit angesteckt wurde, spätestens dann, als er mir auch eine Zigarette anbot und meinte, er habe doch gewusst, wie perfekt ich inzwischen mit dem Kaíki umgehen könne. Wieder kreiste kurz die Raki-Flasche, doch die Feier dauerte nicht lange, wir mussten ja wegen der Paragádia früh wieder raus. Wir rollten uns auf dem Deck zusammen, die Decken stanken gewaltig nach Fisch, doch das störte keinen mehr so richtig.

Das Einholen der Paragádia war die übliche Routine, davon muss ich hier nicht noch einmal in allen Einzelheiten berichten. Drei Schwertfische waren die Ausbeute … einer davon wog sogar über 40 Kilo!
Es war bereits acht Uhr, als die Paragádia alle an Bord wahren und ich das Boot wieder auf Kurs Richtung Kókkinos Pýrgos schwenkte. Michalis und Nikos nahmen die Schwertfische aus, während die beiden anderen das Boot reinigten. Ich hatte den gemütlichsten Job, aber einer musste uns ja nach Hause bringen :-). Zwischendurch kreiste wie immer die Flasche …

Wir näherten uns der Mole, auf der uns schon eine ganze Reihe Leute erwarteten. Das erste jedoch, was ich deutlich erkennen konnte, war eine Polizeiuniform. So ein Mist, das war’s wohl. Keine Netze an Bord, aber kistenweise Sardinen. Klarer ging es ja wohl nicht … Ich wurde unruhig, doch meine Freunde schien das völlig kalt zu lassen. Manolis ging lediglich zu den Kisten und füllte eine Plastiktüte mit Sardinen.
Während wir anlegten, liefen die üblichen Zurufe von Mole zu Boot und zurück ab: „Was gefangen?“ – „Nicht schlecht!“ – „Lasst mal sehen!“ Nikos hob den größten der Schwertfische hoch und man war beeindruckt! Und die Sardinen?

Die Haltetaue flogen herüber, Michalis zog das Boot an den Kai, einige der dort Stehenden halfen bereitwillig. Dann sprang Michalis auf die Mole herüber und überreichte dem Polizisten die Tüte. Dieser blickte kurz hinein, nickte lächelnd und ging seiner Wege …
Wir luden alles aus, unter weiteren fachmännischen und anerkennenden Kommentaren der Umstehenden. Nikos holte von seinem Wagen eine Waage, ich war wie üblich der „Tamías“, also beauftragt, das Kopfrechnen und das Kassieren zu übernehmen … Alles, aber auch wirklich alles war innerhalb einer halben Stunde verkauft. Mein Hemd war prall gefüllt mit Scheinen, als wir zu Jannis‘ Lokal hinauf stiegen.
Nikos bestellte eine Flasche Rakí und reichte eine Tüte mit Fischen, die er für uns abgezweigt hatte, in die Küche: „Fishermens Breakfast“ wie üblich!

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