Mythologie um Kreta

Neben den geschichtlich belegbaren Fakten gibt es wie überall auf der Welt auch auf Kreta einen mythologischen Sagenkreis, dessen Hauptpersonen in Götter- und Heldenkreisen zu finden sind.

Es beginnt gleich recht barbarisch: Da Krónos, dem Herrn der Erde, von seinem Vorgänger Uranós prophezeit worden war, er werde die Weltherrschaft an seinen Sohn verlieren, griff er zu einem seiner Meinung nach probaten Mittel: Er fraß alle seine Kinder gleich nach ihrer Geburt einfach auf. Seine Gattin Rhéa konnte sich damit verständlicherweise nicht so sehr anfreunden, deshalb gebar sie ihren Sohn Zeus heimlich (angeblich in der „Diktéon Ándron“, der Höhle im Díkte-Gebirge) und gab Krónos einen in Windeln gewickelten Stein zu fressen. Er verschlang ihn wie alle Geschwister zuvor, ohne lange nachzuschauen.

Der Stein lag dem Weltherrscher im wahrsten Sinne des Wortes schwer im Magen, denn die Prophezeiung erfüllte sich nun, der herangewachsene Zeus entriss dem Vater die Weltherrschaft und befreite bei dieser Gelegenheit seine erstaunlicherweise noch lebenden und ebenfalls herangewachsenen Geschwister aus dessen Bauch. Mann, muss der Krónos fett gewesen sein.

Zeus, der ein ausgesprochener Schwerenöter gewesen sein soll, wenn man der griechischen Sagenwelt Glauben schenkt, verliebte sich bei irgendeiner Gelegenheit in die Tochter des Phönizierkönigs Agenor. Schon immer ein Meister der Verkleidung, erschien er ihr eines Tages als Stier und lud sie ein, auf seinem Rücken Platz zu nehmen. Als sie leichtsinnigerweise dieser Einladung Folge leistete, sprang er mit ihr ins Meer. Sie war Nichtschwimmerin, sonst wäre sie wohl schnell wieder abgesprungen. So aber entführte er sie durch die Fluten nach Kreta und verwandelte sich sodann zurück. Sie war wohl von der Schönheit der kretischen Landschaft so angetan, daß sie seinem Werben nach- und sich ihm hingab: Der Sage nach zeugte er mit ihr bei Górtys (der Baum, unter dem es geschehen sein soll, wird heute noch gezeigt!) seinen ersten Sohn Mínos und später noch ein paar andere. Zeus war noch nie kleinlich!

Als Minos erwachsen und vorher durch Papa ordentlich gedrillt worden war, wurde ihm von Zeus die Herrschaft über die Insel übertragen. Zu diesem Anlass schenkte ihm Poseidon einen Stier, und das sollte interessante Folgen haben. Mit der Schenkung war nämlich die Verpflichtung verbunden, den Stier gleich wieder zu opfern, aber Minos, das clevere Kerlchen, wollte den Meeresgott über’s Ohr hauen und opferte einen minderwertigeren. Das ging aber voll in die Hose, denn Poseidon bemerkte den Schwindel und dachte sich eine perfide Rache aus: Minos‘ Gattin Pasíphae verliebte sich in diesen (ursprünglich geschenkten) Stier, der diese Liebe aber nicht direkt erwiderte. Selbst Stiere tun es nicht mit jeder!

Sie ließ sich darauf von Dáedalos, einem Künstler am Hof des Mínos, eine künstliche hohle Kuh basteln, die sie bestieg. Die Kuh war dem Stier dann wohl hübsch genug, er bestieg sie ebenfalls, und so zeugte er mit Pasíphae den Minotaurus, ein menschliches Ungeheuer mit einem Stierkopf, das der entsetzte Mínos sofort in das Labyrinth von Knossós sperren ließ, welches ebenfalls Dáedalos erbaut hatte (es ist übrigens nicht belegt, daß der Minotaurus den Beinamen „Kaspar Hauser“ bekam).

Als ein etwas hübscher geratener Bruder des Minotaurus, Andrógeos, bei Wettkämpfen auf dem griechischen Festland getötet wurde, zog Mínos rächend aus und besiegte die Athener. Er legte ihnen als Tribut auf, fortan alle neun Jahre sieben junge Männer und sieben Jungfrauen als Opfer für den Minotaurus nach Kreta zu schicken. Eine Weile klappte das, aber nachdem der Minotaurus zweimal anstandslos sein Futter bekommen hatte, war beim dritten Mal Theseus dabei, der Sohn des athenischen Königs Aegáeus. Die Tochter des Mínos, Ariádne, verliebte sich in ihn und spann sogleich Ränke und den berühmten Ariadnefaden, der Theseus den Weg zurück aus dem Labyrinth finden ließ, nachdem er den Minotaurus getötet hatte. Nachdem Theseus auf Rat des Dáedalos die Schiffe des Mínos unbrauchbar gemacht hatte, floh er mit Ariádne nach Náxos, von wo er dann nach Athen zurückkehrte.

Leider war er dann etwas vergeßlich. Er hatte nämlich mit seinem Vater Aegáeus vereinbart, im Erfolgsfall ein weißes statt des schwarzen Segels zu setzen. Eben dieses vergaß er, und als sein Vater die schwarzen Segel sah, stürzte er sich voll Gram ins Meer, das seitdem das „ägäische“ heißt. Wie einfach sich manche Dinge doch erklären!

Mínos wiederum war jetzt völlig sauer, vor allen Dingen darüber, dass Dáedalos Theseus durch seine Tipps zur Flucht verholfen hatte, weswegen er nun ihn ins Labyrinth sperrte. Doch Dáedalos war clever genug, einen Ausweg zu finden. Er fertigte für sich und seinen mitgefangenen Sohn Íkaros Flügel aus Wachs und Federn, mit denen die beiden in die Freiheit flogen. Jugendlich leichtsinnig wie er war, machte das Fliegen Íkaros richtig Spaß, so dass er höher und höher flog, bis die heiße Sonne das Wachs seiner Flügel zum Schmelzen brachte: Absturz und Exitus! Dies erklärt übrigens, warum es noch keine griechische Fluglinie gibt, die „Ikaros-Airlines“ heißt.

Dáedalos allerdings flog angeblich weiter bis nach Sizilien, wo er Unterschlupf fand. Mínos verfolgte ihn mit Rachsucht und spürte ihn auch auf, aber bevor er ihn dahinmetzeln konnte, unterstützen die Töchter des sizilianischen Königs den Erfinder und verbrühten Mínos im Bade.

Abgesehen von diesen persönlichen Differenzen galt Mínos als weise und vernünftig. Deshalb wurde er auch später zu einem der drei Richter im Hades, der Unterwelt, ernannt.